Zwischentöne und Graustufen scheint es kaum mehr zu geben dieser Tage. Sie gehen unter im Dauerfeuer der oft Asozialen Medien. Was tun?

 Eine Welt in schwarz-weiß, pro und kontra, richtig oder falsch. Wer nicht als meinungslos oder irrelevant gelten will muss senden, senden senden! Keine Zeit zum Zuhören, man muss sich positionieren, die eigene Meinung kommunizieren. Aber bitte nicht zu ausgewogen oder differenziert formuliert – denn Polemik siegt, wer aufregt und polarisiert, gewinnt den Kampf um die Klicks, wird belohnt mit Kommentarspalten lang wie Klopapierrollen, voll vorhersehbarer Empörung und passiver Aggression gegen das „andere Lager“, die vor allem von einem überzeugen: Die Idioten, das sind die anderen.

Und doch gibt es sie noch. Die leisen Töne, die sich über das profitmaximierte Lärmgewitter erheben, wenn man nur zuhört. Am besten kann ich das bei meinen Begegnungen mit dem Wind. In den siebzehn Jahren, die ich in Irland lebe, sind er und seine Launen mir langsam zu Freunden geworden.

Heute: Dem Wind meinen Ballast überlassen – und aufatmen

Auf den Wind kann ich zählen, wenn der Anblick meines Newsfeeds mal wieder Beklemmungen, Wut oder Unverständnis auslöst. Ich gehe hinaus an die Küste, oder hinauf auf den Killiney Hill um seine Nähe zu suchen. Finde ihn im Rauschen der Bäume und in meinen Ohren, in den Mustern, die er ins Meer ritzt, in meiner Gänsehaut, dem Prickeln im Gesicht. Ich genieße seine unsichtbare Gegenwart und sein frisches, manchmal ungestümes Temperament, mit dem er mich immer wieder überrascht.

Ich setze mich ihm aus, schaue ihm beim Spielen zu, überlasse ihm all meinen seelischen Ballast, den er mitnimmt auf seinem Weg nach wer weiß wohin. Nichts von dem, was er mir genommen hat, vermisse ich. Ich mache nur eins: Aufatmen.

 

Foto: Ellen Dunne © 2021

Mehr von Ellen Dunnes Gedanken zum Wind sind in der Anthologie “Zeit zum Genießen” (Insel Verlag) zu finden. Sie will dazu anregen, wo das Besondere im Alltäglichen zu suchen und zu finden sind. Darunter Beiträge von Lily Brett, Thomas Mytting, Thomas Bernhard, Elizabeth von Arnim, und vielen anderen.11 Euro, beim lokalen Buchhändler oder beim sozialen Online-Buchhandel Buch7