Sie erinnern sich vielleicht: ” . . . Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum daß er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger.”


Was danach vor 2015 oder ein paar Jahren mehr geschah, ist allgemein bekannt. Keine freie Herberge, Endstation Stall, Neubeginn und Geburt in Bethlehem neben Ochs und Esel. Man könnte auch sagen, Maria und Joseph waren die ersten prominenten Opfer der Mobilität im Neuen Testament. Wären Sie ungehorsam daheim in Nazareth geblieben, hätte Jesus nicht nur einen anderen Geburtsort. Das Paar hätte sich kaum in prekärer Situation befunden, die zusätzlichen Konsumanreize und Bedürfnisse nach Unterkunft und Verpflegung wären schlichtweg nicht entstanden. 


Vor einigen Wochen traf ich hoch oben in den Bergen des Schwarzwalds einen alten Bekannten, dem der Zusammenhang zwischen Mobilität und Konsum bestens vertraut ist: Vor 18 Jahren schaffte Christian Leppert das Auto ab und ist seitdem ausschließlich zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. 30 Kilometer lange Wege zur Arbeit vom Wohnort am Belchen, hinunter nach Freiburg oder Basel, sind für ihn Routine. Seit dem 9. Februar 2010 hat sich der Geograph aus Südbaden nun einem verschärften Experiment unterzogen: Er übt Mobilitätsverzicht, oder wie er sagt: Er macht ein Immobilitätstraining. Seit dem 9. Februar hat Christian seinen Wohn- und Arbeitsort in Multen nicht verlassen – mit einer Ausnahme: einmal täglich läuft er fast 400 Höhenmeter hinauf zum Belchengipfel. 


Warum zwanghaft daheim bleiben, warum nicht “unter Menschen gehen”? Warum kein Shopping im schönen Freiburg? Warum ein zeit-offenes Experiment der Null-Mobilität, das nun schon über zehn Monate dauert? Ist der Mann depressiv? Das Gegenteil ist der Fall: Christian, der ohne TV-Gerät und so autark wie möglich lebt, wird von einer Schlüsselfrage motiviert: “Ist es möglich, die menschlichen Grundbedürfnisse behutsam zu befriedigen?” Zu den Grundbedürfnissen zählt der vielseitig interessierte und viel gereiste Wenig-Konsumierer nicht nur Atmung, Nahrung, Wärme oder Unterkunft, sondern auch Ästhetik und Spiritualität. Um Antworten zu finden, spürt er den Fragen nach, wie Konsum auslösende Bedürfnisse entstehen, wie er selber auf das Entstehen von Bedürfnissen reagiert und was er tun muss, dass die Bedürfnisse wieder erlöschen. 


Jeder kann sich selber beobachten: Mobilität schafft Bedürfnisse. Wer unterwegs ist, sieht mehr und neue Bedürfnisse entstehen. Wer durch die Stadt spaziert, kann auf die Bedürfnisflüsterer achten, die von allen Seiten ihre Signale senden. Wer einkaufen geht, kauft meist mehr ein, als er/sie auf dem Zettel stehen hat. Das Auge kauft mit. Wer andere Menschen trifft, erhält Inspirationen für neue Begehrlichkeiten: “Mein Haus, mein Boot, mein Lebensstil . . . ” . Und so weiter und so fort. 


Mobilität schafft Bedürfnisse und Bedürfnisse lösen Konsum aus – auch künstlich geschaffene. Wir leben in einer globalen Wirtschaftsordnung, die nur durch ständig mehr Konsum (“Wachstum”) noch einigermaßen aufrecht erhalten werden kann. Das ungebremste Wachstum, das nichts anderes  ist als unser aller Konsum, konsumiert und zerstört unsere Lebensgrundlagen, unsere Heimat, den blauen Planeten. Schon heute bräuchte die Menschheit fast zwei Erden, um auf dem aktuellen Niveau nachhaltig weiter konsumieren zu können, ohne Schäden anzurichten. (Blogger-Kollege Bernd formulierte es treffend: “Die Menschheit bemüht sich fleissig weiter, sich selbst aus der Evolution zu entfernen.“)


Christian Leppert ist den Bedürfnissen und ihrer Entstehung mit seinen radikalen Selbst-Experimenten näher auf der Spur als wir alle. Dabei wähnt er sich ziemlich, wenn auch nicht ganz allein. Er sieht bis heute keine gesellschaftlich relevanten Gruppen, die einen neuen Weg beschreiten. Dieser Weg würde behutsam irgendwo zwischen den Extremen Armut und Konsum hindurchführen. 

Das Haus Sonne Foto: C. Leppert
PS: Christian Leppert und seine Lebensgefährtin Eva Wollweber führen in Multen am Belchen im Schwarzwald die vegetarische Pension “Haus Sonne”. Mehr Informationen für einen inspirierenden Aufenthalt in dem wunderschönen Schwarzwaldhaus gibt es hier: Haus Sonne

PS2: Wer zum Haus Sonne reisen will, muss natürlich mobil sein ;-)