Man war gespannt: Irlands Tourismus-Vermarkter haben diese Woche ihre neue weltweite Werbekampagne vorgestellt. Sie verkaufen die Insel als Oase der Ruhe, in der entspannungsbedürftige Urlauber in der Langsamkeit, in der Natur und in der Begegnung mit natur-langsamen Einheimischen ihre Gefühle wieder entdecken. Die Schlüsselreize der neuen Videoreihe: Entschleunigung, Langsamkeit, Ruhe, Natur, Abenteuer und – Zugreisen.

Hier die offizielle Pressemeldung von Tourism Ireland im Wortlaut – und danach ein paar Bemerkungen zu den Key Selling Points der Kampagne.

„Tourism Ireland hat seine neue weltweite Kampagne „Ireland Unrushed“ („Irland, entspannt“) vorgestellt. Sie lädt dazu ein, Irland in einem entschleunigten Tempo zu entdecken. Basierend auf der Erkenntnis, dass 80 Prozent der internationalen Gäste, die sich nicht für Sonnenziele entscheiden, auf der Suche nach Entdeckung und neuen Erfahrungen sind, stellt die Kampagne genussvolle Reisen in den Mittelpunkt – mit besonderen Naturerlebnissen und authentischen Begegnungen mit lokalen Gemeinschaften.

Im Zentrum der Kampagne steht eine Reihe von Videos, die eindrucksvolle Landschaften und sogenannte „Slow Tourism“-Aktivitäten zeigen – stets mit der Botschaft: „Wer langsamer reist, spürt mehr“. Begleitet werden die Videos von dem atmosphärischen Musikstück Worlds Above Us der irischen Musikerin Lōwli.

Die Kampagne läuft im Juni auf führenden Video-Plattformen sowie in sozialen Netzwerken und digitalen Kanälen in Deutschland und zudem in Großbritannien, den USA, Kanada, Frankreich, Spanien, Italien, den Niederlanden und weiteren wichtigen Tourismusmärkten weltweit. Die geschätzte Reichweite liegt bei rund 70 Millionen Menschen. Erste Tests zeigen, dass über 90 % der Befragten sich durch die Videos positiv in ihrer Urlaubsentscheidung beeinflussen lassen – ein Spitzenwert für die Wirkung solcher Kampagnen.

Zudem werden auf der internationalen Website von Tourism Ireland, Ireland.com, digitale Inhalte zu zehn ausgewählten (Zug-) Routen präsentiert, die entschleunigte und intensive Urlaubserlebnisse nahebringen. Gemeinsam mit Partnern aus der Tourismusbranche auf der ganzen Insel zeigt Tourism Ireland, wie vielfältig Slow Travel in Irland sein kann – ob beim Bootfahren auf den Binnenwasserstraßen, beim Genießen lokaler Produkte auf kulinarischen Küstentouren oder bei Zugreisen zwischen Städten wie Cork, Dublin oder Belfast, von wo aus Strände, Dörfer und Wanderwege erkundet werden können.

Alice Mansergh, CEO von Tourism Ireland, erklärt: „Wir freuen uns sehr, heute die Kampagne ‚Ireland Unrushed‘ zu starten, um Menschen zu inspirieren, Irland als Reiseziel zu wählen. Unsere Recherchen zeigen: 80 Prozent der Reisenden, die keine klassischen Sonnenziele bevorzugen, suchen das Abenteuer – sei es in der Natur, in kulturellen Angeboten oder in Begegnungen mit Einheimischen. Zudem geben 50 Prozent an, mehr Geld für nachhaltige Unterkünfte und Erlebnisse ausgeben zu wollen. Das zeigt ein wachsendes Interesse daran, Reiseziele bewusst zu erleben. Mit ‚Ireland Unrushed‘ wollen wir inspirierende Reisen rund um die Insel Irland zeigen – um Herzen zu gewinnen und den Ausschlag für eine Urlaubsentscheidung zu geben. Unsere Kampagne positioniert Irland als den idealen Ort, um zur Ruhe zu kommen, sich mit Menschen und Landschaften zu verbinden und neue Kraft zu schöpfen. Wer sich für Irland entscheidet, länger bleibt und mehr entdeckt, trägt zugleich zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stärkung der Regionen bei.“

Tourism Ireland arbeitet eng mit Reiseanbietern in ganz Irland zusammen, um besondere Angebote aus dem Bereich Slow Tourism sichtbar zu machen – Erlebnisse, die Reisenden die Möglichkeit geben, langsamer zu reisen, bewusster zu genießen und Erinnerungen zu schaffen, die bleiben.“

Langsamkeit

Irland ist ein schnelles, neoliberal regiertes Land. In keinem Land Europas kann man schneller seinen Job verlieren. Wohl nirgendwo anders sind Absprachen so schnell ungültig wie hier. Mieten, Haus- und Lebensmittelpreise steigen hier in rasender Geschwindkeit. Das Tempo in der Metropole Dublin und in den großen Städten von Cork bis Limerick und Belfast scheut den Vergleich mit dem schnellen Takt von London, Berlin und Paris überhaupt nicht.

Und dann gibt es das ländliche Irland mit den beschaulichen Nischen der Langsamkeit. Die Brandung an der Atlantikküste denkt gar nicht daran, ihre Geschwindigkeit der menschengemachten Produktivitätssteigerung anzupassen. Dem mächtigen Carrauntoohil liegt es völlig fern, das geschäftige Gewusel zu seinen Füßen auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Die Klippen über dem Atlantik kehren der Hektik des irischen Ostens stoisch den Rücken.

Also schnappen sich die schnellen Marketingmenschen in der hyperschnellen Metropole Dublin die Klischees vom langsamen Westen und verkaufen die Sterotypen als Genesung versprechende Heilmittel an beschleunigte Menschen aus anderen beschleunigten Ländern.

Langsam sind in Irland immerhin die politischen Prozesse. Papier ist hier geduldig. Gesetzespapier noch viel geduldiger und sein Vollzug elend langsam. Vor allem, wenn es um den Schutz dessen geht, was man dem Touristen so gerne verkauft: die Natur.

Natur

Wer weitläufige grüne Rinderwiesen, kahl gefressene Schafberge und stille, leer gefischte Meeresbuchten für Natur hält, ist in Irland gerne gesehener Naturfreund. Trotz schärferer EU-Gesetze zum Schutz der Natur galoppieren Landschaftsverbrauch und Naturzerstörung auf der Insel in nie gekanntem Tempo. In den Biodiversitäts-Rankings, die den Stand und den Schutz der Artenvielfalt in den Ländern Europas oder der Welt vergleichen, rangiert Irland immer weit unten auf den hinteren Rängen. Eine entfesselte Baupolitik für Wohnungen und Industrie, die mächtige milch- und fleischgetriebene Agrarindustrie, die schlecht regulierte und noch schlechter kontrollierte Fischerei, die gravierende menschengemachte Verschmutzung von Böden und Gewässern, systemische Blockaden bei der Umsetzung und Kontrolle von Schutzgesetzen, sowie eine Obsession für Grundbesitz gepaart mit dem überwiegend privaten Landbesitz lassen wenig Raum für Optimismus: Tiere, Pflanzen und Landschaft sind in Irland auf der abschüssigen Verliererstraße.

Wie niedlich, dass die neuen Videos einsame kleine Fischkutter im Sonnenuntergang oder einen alten Bauern beim Spaziergang mit seiner (einen!) Kuh zeigen.

Abenteuer

Menschen, die der Sonne entfliehen und nach Irland kommen, suchen also das Abenteuer. Ist es das Abenteuer, auf einer fest vorgegebenen Reiseroute zwischen zwei ausgewiesenenen Aussichtspunkten keine Haltemöglichkeit zu finden? Das Marketingkonzept für den Wild Atlantic Way, das Irland den Weg in den Massentourismus bescherte, vermittelt Urlaubern mit magischer Hand, was sie zu tun haben. Jeder fährt dieselbe Route, jeder macht das Gleiche – die neuen Pauschaltouristen genießen „Freiheit in Dosen“ und sind zufrieden.

Oder ist es das Abenteuer, ein 20-minütiges Funkloch unbeschadet zu überstehen, oder es 30 Minuten ohne Internetsignal auszuhalten? Vielleicht verschlägt es Dich 
hierhin
 oder dorthin, wenn die Navi-Batterie leer georgelt ist? Oder das Bezahlen der überhöhten Rechnung im Restaurant gerät zum unkalkulierten Abenteuer?

Vergangene Woche erlebte ich zwei deutsche Touristinnen beim Extrem-Abenteuer. Sie hatten Wanderpläne und deshalb fünf Tage und Nächte in einem herrlich gelegenen Bed & Breakfast unweit der Küste am Beara Way gebucht. Nach der ersten Nacht flüchtete das Wander-Duo auf Nimmerwiedersehen im Mietwagen in die rettende städtische Umgebung Killarneys. Ich stellte mir vor, wie die beiden Abenteuerinnen in der Einsamkeit von dröhnender Stille aus dem Schlaf gerissen wurden und in rabenschwarzer Nacht panisch wach lagen. Am nächsten Morgen der Blick aus dem Fenster – verstörend: Kein Haus, kein Pub, kein Einkaufszentrum in Sicht. Abenteuer allzu pur.

Entschleunigung (in Zügen)

Wer langsamer reist, braucht länger. Auch von Dublin zu den Cliffs of Moher und zurück. Irlands Tourismusindustrie hat sich von den Einbußen der Pandemiejahre bis heute nicht erholt. Weil nun deutlich weniger Menschen in Irland Ferien machen, haben die Tourismusvermarkter ihre Strategie gewechselt: Am willkommensten sind nun Gäste mit gut gefülltem Reise-Geldbeutel, die möglichst lange bleiben. Amerikaner also. Da US-Touristen die Einbußen alleine nicht kompensieren können, entschleunigen Irlands Tourismusvermarkter nun eben die weltweite Besucher-Klientel.

Ein Schritt zurück und deutlicher Abstand zum Kopfzähl-Massentourismus der vergangenen Jahre macht viel Sinn, wenn er mehr ist als an die Realität angepasste Taktik.

Bemerkenswert auch der neue Fokus auf Zugreisen: Wer im Zug reist, ist nicht nur länger unterwegs als mit dem Auto, er bleibt in der Regel auch länger an einem Ort. Der Einfluss (mittlerweile wieder beendeter) grüner Regierungsbeteiligung hat der Verkehrs-Infrastruktur sichtlich gut getan. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr wurden in den vergangenen Jahren kräftig ausgebaut und vor allem besser vernetzt. Neue Strecken wurden geschaffen, die Frequenzen erhöht, neue moderne Busse in Betrieb genommen. Unter der Dachmarke „Transport for Ireland“ (TFI) werden die Routen und Fahrpläne aller wichtigen Verkehrsträger in Irland erstmals koordiniert und zusammen kommuniziert. Mit den TFI-Apps haben Bus- und Zugreisende nun den vollen Überblick und den Zugriff auf das gesamte öffentliche Tranportangebot. Nie war es leichter, Irland mit Bussen und Zügen zu erkunden.

Unterwegs in den komfortablen und oft wenig benutzten Doppeldeckerbussen, wünscht man der Regierung und den beteiligten Unternehmen einen langen Atem . . .

Mehr fühlen

Wer reist, lebt in Geschichten – und wer Reisende unterhält, erzählt ihnen Geschichten. Auch Irlands Tourismusvermarkter sind letztlich nur Geschichtenerzähler. Ihre neueste Story verspricht Irland-Touristen, dass sie mehr fühlen (in Frankfurt sagt man: mehr spüren), wenn sie nach Irland kommen und sich hier Zeit nehmen oder Zeit lassen.

Ein Gedankenexperiment: Zeit ist Geld und Irland eines der teuersten Reiseziele Europas. Die Kosten für Essen, Mietwagen und Unterkunft: atem-abschnürend und reserven-beraubend. Wer sich Zeit lassen will, um mehr zu spüren, könnte zuhause bleiben, mit der eingesparten Reisezeit noch mehr fühlen, sich mit dem gesparten Reise-Geld noch mehr Zeit kaufen – und sich in einer Spirale der Ruhe und Langsamkeit anstrengungsfrei entschleunigen. Zum eigenen Wohl und zum Wohl des Ortes, den wir zuhause oder daheim nennen . . .

Schon recht. Gut gedacht macht noch lange keine gute Geschichte . . .

Wie sollen man und frau daheim Erinnerungen schaffen, die bleiben, und Online-Stoff für Insta und Facebook und TikTok, und all die Geschichten weiter erzählen von der unvergleichlichen Natur Irlands?

 

 


 

Das Skript des neuen Videos „Mit dem Zug entspannt nach Westport am Wild Atlantic Way“ lautet:

„Ein Fensterplatz lohnt sich ganz besonders,
wenn Du in Irland mit dem Zug unterwegs bist.

Vielleicht verschlägt es Dich 
hierhin
 oder dorthin.

Und vielleicht merkst Du,
wenn Du Dir mehr Zeit nimmst,
fühlst Du mehr.

Irland entspannt.“

 

Hier das erste der neuen Video-Reihe „Irland, entspannt“:

Fotos / Video: Tourism Ireland

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