Baden verboten

 

Dia duit. Ist da noch jemand? Vor sechs Wochen schrieb ich hier den letzten Beitrag vor einer langen Reise, die mich auch in die alte Heimat führte. Schreibpause. Covid und andere Hindernisse. Überwunden. Die Welt scheint nun eine noch andere: Amerika hat einen frauenverachtenden Faschisten erneut zum Präsidenten gewählt. Ein Tag später zerbrach in Deutschland nach langem Siechtum die unglückselige Dreier-Koalition des illusionären Fortschritts. Der Westen zerfällt langsam und konsequent nach 300 Jahren Dominanz. Wir sind live dabei. Noch ist es auf den billigen Plätzen nicht gänzlich ungemütlich.

Nur das kleine Land am westlichen Rand Europas, die grüne Insel im Nordatlantik, wehrt sich weiter. Auch Irland wählt eine neue Regierung. Ohne viel Geplänkel hat Regierungschef Simon Harris am 6. November Neuwahlen für den 29. November angekündigt. Es fehlt hier weder an Papier noch an Optimismus: Gut drei Wochen Wahlkampf müssen reichen. Die Opposition schlingert gerade, die beiden großen Regierungsparteien wittern ihre Chance – auch auf Kosten der Grünen und der grünen Agenda.

Während in Deutschland politischer Stillstand herrscht und es in den meisten Ländern des Westens kulturell rückwärts, ja abwärts geht, plakatiert die irische Regierungs-Partei Fianna Fail ihren Vorsitzenden Micheál Martin mit dem ewig modernistischen Motto: „Moving Forward. Together.“ Hier auf der Insel lebt sie offensichtlich immer noch – angesichts von Apple-Milliarden und ungestilltem Nachholbedarf – die Geschichte vom immerwährenden Fortschritt. Gemeinsam vorwärts. Ist das mutig, berechnend oder einfach nur bescheuert? Fianna Fail verrät uns leider nicht, wo genau vorne ist und wie wir dorthin gelangen. Aber egal, Optimismus tut immer gut in diesen bleiernen Zeiten.

 

Das haben wir nicht verdient. Sie nicht verdient

Wer reist vergleicht. In der alten Heimat hat sich die Tonalität gewandelt: Die Aggressivität vergangener Jahre paart sich nun leicht erkennbar mit Abstiegsangst. Die alten Stärken ziehen nicht mehr. Der Gegner hat verstanden. Man weiß nicht so recht weiter im Land der einst genialen Ingenieure. Eigentlich soll doch alles immer besser werden – und jetzt wird es auch noch schlechter. Das haben wir nicht verdient. Wir. Sie. Ich wollte mich an diese Stimmung nicht gewöhnen.

Eine Auszeit suchte ich ausgerechnet in der Schweiz. Diesem über alle Maßen überregulierten Land, in dem es die schönsten – wenn nicht die meisten – Verbotsschilder gibt. Wir fahren an einen Ort, den man bis heute nicht mit dem Auto erreichen kann – nur zu Fuß oder mit dem Fährschiff über den Walensee. Dort schauen wir eine Nacht und einen Morgen lang auf die andere, die immer geschäftige Seeseite, die niemals schläft. Wir schauen aus der Vergangenheit in die Gegenwart, und ich frage mich: Ist es für mein Seelenheil gesünder, am Ort der Vergangenheit zu sein, oder von der kranken Seite auf die gesunde zu schauen? Die Nacht in der Stille von Quinten inmitten der Weinberge ließ zumindest nicht zu wünschen übrig.

18 mal bin ich in meinem Leben bislang umgezogen, und ich habe nie an einer Vogelzug-Route gelebt. Vögel gehören zu meinen liebsten Mitlebewesen, und doch habe ich sie immer nur als Einzelne, als Paare, als Familien oder kleine Gruppen wahr genommen. Zu Gast auf einem Balkon zwischen Hunsrück und Rhein konnte ich mir zunächst keinen Reim machen auf den ohrenbetäubenden Lärm, der sich über unseren Köpfen von Süden annäherte. Und dann sah ich sie. Etwa 150 Kraniche flogen in V-Formation über uns hinweg. Sie schnatterten, sie zeterten, sie verständigten sich zum gewaltigen Sound der 300 schlagenden Flügel. Der archaische Krach vom Himmel herunter fasste mich schwer an, resonierte tief in meinem Inneren. Ich meinte sie zu verstehen. Haben wir uns nicht immer schon so unterhalten? Von Mensch zu Kranich, zu Bär und Wolf und Adler und Gans und Amsel?

Ein wilder Lärm, nicht von Menschen gemacht

Welche Kraft, welche gewaltige uralte Energie dieser Zug der großen Vögel ausstrahlte. Und welche Genugtuung: Es gibt wirklich noch einen mächtigen wilden Lärm, der nicht von Menschen gemacht ist. Es gibt eine starke natürliche Welt jenseits der menschlichen Zivilisation. Der Zug der Kraniche in all seiner lebendigen Offenbarung hat etwas in mir zurecht gerückt. Trump hin, Scholz her, fuck Putin, vergiss Orban: Der Zug der Kraniche ist mächtiger. Er wird unser Scheitern überleben.

Kraniche gibt es in Irland nur selten. Einzelne Vögel oder kleine Gruppen wurden immer mal wieder gesichtet. Verirrte. Irland liegt nicht an der Zugroute der Kraniche. Wohl aber an der großen Route der Gänse. Zurück in der Wahlheimat am Atlantik studiere ich die Migrationspfade der Ringelgänse (Brent Geese), die zu Zehntausenden von den arktischen Regionen Alaskas und Kanadas auf die Insel ziehen und hier überwintern. Sie kommen im November an und ziehen im April zurück in den hohen Norden. Ich fuhr in die Tralee Bay und verwechselte einen Schwarm von 500 Kibitzen mit den gesuchten Gänsen. Ich beobachtete nördlich von Fenit im geschützten und menscheneeren Barrow Harbour zwei- bis dreitausend Ringelgänse beim Futtern. Welch ein Anblick. Welche Geräusche, so ein freundlicher Krach. Das Fernglas spielte mit, die kleinformatigen Kameras machten schlapp. Ich werde zu besseren Objektiven greifen müssen, um diese faszinierende Welt der Schwarmvögel und der Vogelschwärme abzubilden.

 

 

Auch zehn Tage seit der Rückkehr nach Hause in den Süwesten Irlands hatte ich die Sonne kaum zu Gesicht bekommen. Nein, das Wetter war gar nicht schlecht, die meisten Menschen priesen es geradezu: Oktober, November, und es ist trocken und stürmt nicht. Statt dessen regenfreie, graue, windstille, völlig leblose Tage. Erinnerungen an den deutschen Herbst. Diese grauen Tage ohne jegliche Sonne wollen das Wetter-Kommando auch hier übernehmen? Schluss und vorbei mit „Vier Jahreszeiten an einem Tag“ und den glorreichsten Wolkenformationen in Europa? Ich schaute in die Literatur, und es gibt eindeutige Belege: In Südwest-Irland ist die Zahl der grauen Tage pro Jahr innerhalb eines Jahrzehnts seit 2013 von 150 auf 230 linear angestiegen. 80 graue Tage mehr in zehn Jahren. Ist das noch Wetter oder ist es schon Klima? Egal. Es ist Grauen und es fühlt sich grau an.

Gestern Sonne, heute Sonne. Alles vergessen. Bis zum nächsten grauen Tag. Zurück aus den Verbotsländern im Nimmrücksichtland. Wunderbar.

Fotos: Markus Bäuchle © 2024