Deutsche, die nach Irland ziehen, haben dafür immer ihre Gründe – und oft gute Gründe. Sehen wir einmal von einer besonderen Spezies der Arbeits-Migranten ab, Leuten, die sich “für ein paar Euro mehr” ein Leben in einem Land zumuten, das sie im besten Fall nicht interessiert, im häufigsten Fall aber schnell frustriert. Wahl-Insulaner, die an den westlichen Rand Europas ziehen, um dort einen Lebensentwurf zu verwirklichen, schätzen oft die grandiose Natur Irlands, den Raum, den das Land aufgrund seiner geringen Besiedelung bietet – und natürlich den politisch-gesellschaftlich-kulturellen Freiraum.

Dieser in Gesprächen oft zitierte Freiraum, schlicht und ergreifend als “Freiheit” bezeichnet, ist einerseits dem Luxus von räumlicher Weite auf dem irischen Land geschuldet: Links kein Nachbar, rechts keiner, vorne das Meer und hinten die Berge. Das hebt sich wohltuend von den klaustrophobischen Erfahrungen in einer Mietskaserne, in einer Reihenhaussiedung, ja selbst in einem “gehobenen” Wohngebiet ab, wo der Hund den entfernten Nachbarn zum Wahnsinn treibt und der Choleriker in der übernächsten Straße gerne die Kinder vergiften würde.
Erlebter Freiraum hat jedoch auch viel mit der Kultur des Zusammenlebens zu tun: Das irische “Leben und leben lassen” kommt zugewanderten Individualisten entgegegen – und solange sie nicht zum sozial streng kontrollierten inneren Zirkel der Community gehören, geht die Freiraum-Rechung umso besser auf.
Wer von der großen Freiheit auf der Grünen Insel redet, meint jedoch vor allem die Staatsferne des Lebens: Der irische Staat ist groß, der Apparat der öffentlich Bediensteten unanständig aufgebläht, doch er ist gleichzeitig schwach. “Der Staat”, der das Zusammenleben regeln und für sozialen Ausgleich sorgen soll, wird gerne mit Raffinesse ausgenommen und auch dort in die Pflicht genommen, wo eigentlich Eigenverantwortung angebracht wäre. Ansonsten aber, auf der Seite der Rechte, soll sich der Staat aus dem Leben gefälligst heraushalten. Was er auch zumeist tut.
Das Bedürfnis der Iren nach “Privacy” ist ausgeprägt, und dem schließt sich der Kontinentaleuropäer, den es auf die Insel zog, meist gerne an. Die Rede ist nicht einmal von den Legionen von Wirtschaftsflüchtlingen, die in den vergangenen Jahrzehnten auf der Insel sesshaft wurden, um sich “Jottwede” dem Zugriff des eigenen Staates zu entziehen. Die Rede ist davon, dass der Staat nicht das gesamte Leben durchreguliert und die Bürger nicht auf Schritt und Tritt verfolgt – und dass er sich im Übermaß zurückhält. Sei es aus Prinzip oder aus Unfähigkeit.
Kein Zweifel, die Gesetzesmaschinerie produziert auch im Irland eines vereinigten Europas einen gewaltigen Ausstoß. Doch im Zweifelsfall ist das Papier und sind die Gesetze auf der Insel um Klassen geduldiger als anderswo. Wer glaubt, dass die Verabschiedung eines Gesetzes in Irland automatisch auch dessen strikte Einhaltung verlangt, ist dem grundlegenden Missverständnis bereits erlegen: Irische Gesetze sind oft Absichtserklärungen, um deren Einhaltung sich im Zweifelsfall niemand kümmert – ein Umstand, der gesetzestreu denkende Deutsche, die die große Freiheit rühmen, an genau derselben Freiheit verzweifeln lassen.
Gesetze, Richtlinien, Staatsbudgets in Irland sind eher so etwas wie tendenziell unerfüllbare Pläne, weil es an der der Kontrolle, an der Durchsetzung, an der Realisierungskraft und am Durchsetzungswillen fehlt. Einige Beispiele aus dem täglichen Leben des Wanderers illustrieren vielleicht, was den schwachen Staat so liebenswert wie angreifbar macht:
* Der Bau von Ferienhäusern am Rand eines Naturdenkmals wird nach öffentlichem Protest von der Baubehörde nur unter Bedingungen genehmigt. Der Bauherr erhält einen ganzen Katalog strengster Auflagen, der ihm nicht nur auferlegt, das Naturdenkmal zu schonen, sondern es auch für die Zukunft aktiv zu bewahren. Die Bilanz nach fünf Jahren: Die Häuser sind gebaut, das Naturdenkmal verfällt, der Bauherr baute und blieb ansonsten völlig untätig. Es gibt keinen Beamten, keine Behörde, die die Einhaltung der Auflagen jemals nachgeprüft hätte.
* Der Boden und das Wasser auf dem irischen Land sind vielerorts von menschlichen Fäkalien verunreinigt. Der Grund: Öffentliche Kläranlagen fehlen, die privaten Hauskläranlagen sind alt, funktionieren schlecht oder gar nicht mehr. Die Gesetze sind eindeutig und prangern diese Missstände an – doch wen kümmert´s? Die zuständigen Umweltbehörden meist nicht. Sie wissen um die besch . . . Lage im Land, werden jedoch allenfalls im Einzelfall aktiv, wenn Beschwerden oder Anzeigen von Nachbarn eingehen. Wer will es sich schon freiwillig mit so vielen Cousins und Cousinen vom eigenen Clan verderben?
* Der Polizist, der den Raser gestoppt hat, erweist sich als netter Mann. Nach einem ausgiebigen Schwätzchen und gegenseitigen Sympathiebekundungen spielt es doch keine Rolle mehr, dass der Verkehrs-Rowdie gerade mal 40 Stundenkilometer zu schnell gefahren war, im Überholverbot überholt und dabei eine markierte Sperrfläche überfahren hatte. Der freundliche Polizist entlässt den Straßen-Rambo mit dem dezenten Tadel: “Junge, ich geb Dir noch mal eine Chance”. Der Rambo hat nun eine Geschichte fürs Leben zu erzählen. Was die irische Polizei so “menschlich” macht, lässt den Staat gleichzeitig alt aussehen.
* Der Mann der die 150 drastisch unterfrankierten Werbebriefe seiner zahlen-legasthenischen Frau zur Post bringt, verlässt das Postamt freudestrahlend. Nein, das wäre ihm in Deutschland nicht passiert: Der freundliche Postbeamte weist den Mann darauf hin, dass auf den Briefen zu wenig Porto klebt, der Mann erwidert: “Das wird meine Frau ganz schön ärgern, sie war so froh, dass die Briefe leicht genug für das preiswerte Porto sind”. Worauf der freundliche Postbeamte seine ganze geballte Nettigkeit ausspielt: “Na, dann wollen wir Ihre Frau mal nicht enttäuschen”. Nimmt die 150 Briefe und wirft sie neben sich in den Postausgangskorb.
* Der erkältungsgeschwächte Mensch, der im irischen Supermarkt zwei Packungen Paracetamol-Schmerzmittel kaufen will, wird von der Kassiererin gleich doppelt gerüffelt: Einmal dafür, dass er nicht weiß, dass man nicht gleichzeitig zwei Packungen der gerne für Selbstmoderversuche benutzten Chemikalie kaufen kann – und dann für seinen naiven Legalismus, weil er eine Packung widerstandslos ins Regal zurücklegen will. “Pass auf”, sagt Kassen-Sheila, “Du zahlst erst die eine Packung, und danach kaufst Du die andere. Das macht dann zwei Einkäufe, und das ist nicht verboten.” Na also, geht doch.
Wollen Sie mehr von diesen wahren Geschichten? Wer kennt mehr von diesen “true stories” über Freiheit, Ungleichheit und Brüderlichkeit, von den Alltags-Epen aus der Reihe “Legal, Illegal, Scheißegal”?