Irischer Sonntag: Kommt es Ihnen auch manchmal so vor, dass diese Welt immer irrer, immer unüberschaubarer, konfliktgeladener und gewalttätiger wird? Israel, Palästina, Syrien, Irak, Libanon, subsummiert als Pulverfass Naher Osten. Die Ukraine, Russland, Georgien, ein an den Rändern bröckelndes Groß-China; Afrika ohnedies, wie immer in Problemen verstrickt: Die halbe Welt scheint Krisen-Region und destabilisiert zu sein. Kollektive Gewalt und individuelle Brutalität geben den Ton an, während unsere Medien beim Erklären vollends versagen. Und was macht das mit uns?
Sibylle Berg weist heute in ihrer Kolumne auf Spiegel Online darauf hin, dass die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt, weil wir emotional überfordert sind:
„Wir sind hart geworden. Erregen uns schnell, vergessen, denn da steht schon wieder das nächste Elend an. Unser eigenes. Das Leben scheint so bedroht zu sein. Auf der Welt beweisen Horden von Idioten mit Gewehren, dass dumpfe Brutalität immer siegt. Mädchen werden in Nigeria entführt, Tote in der Ukraine behandelt wie Abfall, Frauen werden gesteinigt von IS-Leuten. Und warum tun die das? Weil sie es können. Weil sie laut sind, weil sie einen an der Waffel haben, weil sie keine Chancen hatten, Oberarzt zu werden, weil sie, who cares – weil Brutalität immer gewinnt, aber das sagte ich schon.
Ebola in Afrika. Ackermann im Aufsichtsrat einer Firma von Herrn Wekselberg, die Reichen, die immer reicher werden, der Mist, der stinkt. Wir sind nicht mehr anteilnehmend, unsere Nerven halten das nicht aus. Es scheint eine Zeit gekommen zu sein, in der jeder für sich schauen muss, damit er nicht untergeht, nicht entmietet wird, weil die Stadt sein Haus an einen Immobilientrust verscherbelt hat. Der Job nicht gekündigt wird, weil man mit über 40 zu alt ist. Die meisten sind am Rand ihrer emotionalen Mitleidensfähigkeit.
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Man kann sagen, was nützt uns unser Schulterschluss, was nützen Proteste. Die Startbahn West wurde gebaut, der Atommüll rollte durchs Land, der Stuttgarter Park ist halb gerodet. Man kann sagen, es bringt nichts, aufzubegehren. Es gibt viele Gründe, sich nicht zu engagieren. Feigheit, Desinteresse, genug eigene Sorgen, absurde Vorurteile. Keiner zählt. Denn am Ende bleibt nur der Satz: Wir geben unsere Menschlichkeit auf.“
Gut geschrieben und überzeugend. Also kämpfen wir weiter. Oder machen wir´s vielleicht doch lieber wie der scheidende Deutsche Botschafter in Irland, Eckhard Lübkemeier, der nach drei Jahren Insel-Dienst die Botschaft in Booterstown, Dublin, turnusgemäß verlässt und einem Nachfolger Platz macht. Lübkemeier feiert seinen Abschied, der irgendwie gar keiner sein soll, mit einer Lobpreisung Irlands und der Iren in der Irish Times. Der befangene Leser fragt sich: Wo war dieser Mann drei Jahre lang? Hat er sich in seinem Büro eingeschlossen? Oder will er einfach nur beliebt sein? Beliebter als sein Klartext redender Vor-Vorgänger? Hier ein paar Zeilen aus Lübkemeiers Irland-Laudatio, die sich liest wie ein Postkartentext eines euphorisierten Irland-Erstbesuchers:
„But what really makes you feel you will never leave Ireland is the Irish people. In the course of our three years here we had numerous visitors who took trips throughout the country. All returned with very fond memories of the Irish they had met. And they had met many!
For this is one of the first things you experience when you come here. People will start talking to you at the drop of a hat. They do it with a smile, a warm-hearted curiosity, and a genuine willingness to help. So even if you are shy and not used to it, you begin to like it. Maybe not instantly, but what might be called the “great Irish embrace” proves irresistible in the end.
“A stranger is a friend you haven’t met yet.” I have thought long and hard to find something that would sound even more Irish. Here it is: “A stranger is a friend an Irish person hasn’t spoken to yet.” No wonder Ireland has more mobile phone subscriptions than people.
The people are this country’s greatest asset. It’s their friendliness and humour, their optimism and resilience that blend into something uniquely Irish.“
Freundlichstes Diplomaten-Welsch. Aber immerhin: Der Insel-Blick funktioniert. Konzentriert man seine Aufmerksamkeit ganz auf diese herrliche kleine Insel am westlichen Rand Europas, kann einem auch in dunklen Zeiten warm ums Herz und grün vor den Augen werden.
Es sei denn, man hat mal wieder Fintan O´Toole gelesen, den scharfsinnigen und tabufreisten irischen Publizisten, der seinen Landsleuten so gerne den Spiegel vor die Nasen hält. Dass er dafür bisweilen als Nestbeschmutzer geschmäht wird, scheint ihm noch mehr Auftrieb zu geben. In der vergangenen Woche jedenfalls hat sich O`Toole mit einer knappen psychologischen Bestandsaufnahme vom Zustand seiner Landsleute mal wieder so richtig beliebt gemacht. Er beschreibt die Iren darin als vielfach-abhängige Extrem-Konsumenten mit permanentem Kontrollverlust, die sich im Gefühl vermeintlicher Machtlosigkeit bequem eingerichtet haben und die nicht in der Lage sind, über den Tag hinaus zu denken und die Zukunft zu planen. Alkoholprobleme, Drogenprobleme, Fress-Sucht, Spielsucht, Verschwendungssucht und turmhohe Privatschulden wie in keinem anderen Land Europas — die Iren können alles auf einmal:
„We Irish are not alcoholics – we are everything-aholics. Of course we drink too much, but we also take too many drugs, eat too much rubbish, gamble too wildly and splurge too much money. And we can’t get to grips with these individual impulses because we don’t join them all up and ask what lies behind them. In particular we don’t ask whether there might be some connection between our guzzling and overindulgence on the one hand and our political culture on the other.
Every few weeks we get a new report into some aspect of Ireland’s terrible trouble with consumption. Last week, it was the Irish Longitudinal Study on Ageing which showed that almost 80 per cent of Irish people over 50 are either obese or overweight. Before that, it was figures showing that 32 per cent of Irish seven-year-olds are overweight or obese.
Last month it was the Health Research Board report that showed 75 per cent of all alcohol consumed in Ireland is part of a binge-drinking session and that 1.3 million of us are classified as problem drinkers. Before that, it was the revelation that between 2004 and 2011, 4,606 people died directly, or indirectly, from illegal drug use in Ireland.“
O`Toole will seine Landsleute freilich nicht einfach bloßstellen. Er versucht, eine Diskussion für eine bessere Zukunft zu beginnen und fragt deshalb nach den Mustern und Gründen, die dieses massenhafte Suchtverhalten erklären könnten — und er zeigt den Zusammenhang auf zum so offensichtlichen Versagen des Staates, der Institutionen und des irischen Gemeinwesens: Beidem zugrund liegt das Fehlen von Selbstkontrolle und Selbstverantwortung. Wow, Eckhard Lübkemeier, wo warst Du nur die letzten drei Jahre?
Euch allen einen schönen Sonntag, und uns allen ein schönes Bank-Holiday-Wochenende.
Wißt Ihr warum die Leute auf einer Insel so nett und hilfsbereit sind ??
Ganz einfach, sie sitzen alle in einem Boot.
Ich kenne Irland leider nicht, aber auf der Insel Gozo sind die Leute so nett und hilfsbereit wie wahrscheinlich in Irland. Ich bin jetzt gerade für ein paar Wochen in D und das ist wirklich ein Schock.
Beste Grüße an alle Inselfreund
Siegmar
Soll denn ein Botschafter, noch dazu aus dem Besserwisserland Deutschland, wenn er geht, nochmal so richtig seine Gastgeber beleidigen?
Wäre kein guter Stil. Oder macht Ihr das irgendwo, wenn Ihr wieder nach hause fahrt?
Nur weil er so zitiert wird, heißt das doch nicht, dass er nicht auch andere Facetten Irlands erlebt hat.
Und im Grunde hat er sich doch somit auch recht Irisch verhalten…man will eben auch nicht jedem ins Gesicht sagen, was man von ihm denkt. So direkt sind vor allem die Deutschen. Da hat er doch schon viel gelernt, oder ; ) ?
Claudia,
ein Diplomat ist ein Diplomat, d. h. er sagt nie, was er wirklich denkt. So weit, so diplomatisch. Aber Lübkemeier (wieso denke ich an Lübke?) war auf seine Art ziemlich herablassend, nämlich insofern, als er die Iren nicht in ihrer Realität ernst nahm.
Wenn du dem Link zur Irish Times in Markus‘ Artikel folgst und die vollständige „Rede“ liest, dann siehst du, dass es nur platte, blaugrünäugige Lobhudelei unter vollständiger Verkennung der realen Verhältnisse ist. Gehe auf Seite 2 und lies mal seine Anmerkungen zum irischen Wirtschaftscrash und wie Irland sich da wieder rausgemuddelt haben soll. Hat es? Nee.
Er vergisst, was es für die Bürger Irlands bedeutet. Aber er war ja auch nicht von den absurden Sparmaßnahmen und Mehrausgaben in allen Bereichen betroffen.
Und dann sollten alle mal die Kommentare der irischen Leser unter dem Artikel lesen.
Einer stach für mich heraus:
„Our greatest failing as a people is that we never doubt or tire of the nice things people say about us. We are absolutely suckers for it. I am happy for you that your time here was a happy experience , but you could not , without rose tinted glasses see what we were really like during the Tiger years.
Greedy , hubristic , exploitative , deceitful ,: take every vice and we made a virtue of it .. “
Eine anderer Kommentator zitierte:
„An ambassador is an honest gentleman sent to lie abroad for the good of his country.“ – und fügte hinzu: „Let’s remember this before the usual torrent of Germanophobia surfaces. Though why he felt obliged to pen these patronising comments is anyone’s guess. He appears to have no sense of the suppressed rage hidden beneath the apparent bonhomie he so lauds.“
Was ich damit sagen will ist, dass es verständlich ist, dass Kurzzeitbesucher (auch solche im geschützten diplomatischen Bereich für drei Jahre) nur das Schöne sehen wollen. Es hat aber nichts mit der Realität der Iren und Irlands zu tun.
Und die Iren sind nicht so doof, dass sie das nicht mittlerweile bemerken und diese unkritische und falsche Lobhudelei erkennen.
Was für ein interessantes Diskussionsthema.
Guten Tag, ich grüsse euch als ehemalige „Irin“, die seit ewas mehr als einem Jahr wieder in Deutschland lebt. Mehr als 6 Jahre habe ich in Irland verbracht und habe genügend Zeit gehabt, die Mentalität der Iren kennenzulernen. Diese Zeit und auch viele Iren werde ich immer in meinem Herzen behalten. Was ich da an Hilfsbereitschaft und Unterstützung erlebt habe, das vermisse ich hier sehr. Es war für mich ein Kulturschock, als ich wieder hier in Deutschland ankam. Sicher hat Irland massive Probleme. Das will ich auch nicht bestreiten. Suchtprobleme hat Deutschland auch zur Genüge. Das sind die Folgen unserer Wohlstandes und des elektronischen Zeitalters. Nun zu eurer Meinung über Herrn Lübkemeier … Ich habe ihn persönlich als einen wunderbaren Menschen kennengelernt, der mir in einer familiären Notsituation selbst an seinem dienstfreien Sonntag sofort mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Deshalb teile ich eure Meinung über ihn nicht. Er ist trotz seinen hohen Amtes als Botschafter ein Mensch geblieben. Euch noch einen schönen Sonntag und liebe Grüße. Rita
Ich war auch im Irland des Herrn Lübkemeier. Wo war der Autor?
Der Autor LEBT in Irland, ebenso die Autorin dieses Kommentars und zwar seit über 17 Jahren und das nicht im geschützten mentalen Touristenreservat.
Irland ist wunderbar, sonst würde ich hier nicht leben. Aber die Iren sind nicht die freundlichen Leprechauns als die sie sich so gerne präsentieren. Jeden anquatschen und nach dem Wohlbefinden fragen (was keinen wirklich interessiert) ist kein „Irish embrace“, sondern reinste Oberflächlichkeit und Gewohnheit. Eine wirklich vertrauliche Freundschaft entsteht daraus nicht, erst recht nicht, wenn „der Fremde, der noch kein Freund ist“ eine Meinung äußert, vorsichtig Kritik wagt und Dinge anders macht. Dann kann die Freundlichkeit leicht in subtile oder nicht so subtile Boshaftigkeit umschlagen.
Das betrifft auch die eigenen (irischen) Mitbürger. Siehe Fintan O’Toole oder auch den Ökonomen Morgan Kelly, der lange vor dem Finanzcrash diesen vorhergesagt und vor der wahnwitzigen Immobilienspirale gewarnt hatte. Der damalige Häuptling Bertie Ahern erwiderte ihm darauf bekanntermaßen:
„Sitting on the sidelines, cribbing and moaning is a lost opportunity. I don’t know how people who engage in that don’t commit suicide ….“
Kurzum, sollen Kritiker sich doch aufhängen mit ihrer Miesepetrigkeit. Kelly behielt jedoch recht.
Und Christian Pauls, der Vor-Vorgänger von Lübkemeier wurde aufgrund seiner Kritik am wahnwitzigen Umgang der Iren mit Geld und Reichtum in Grund und Boden kritisiert und dann nochmals, als er sich weigerte, sich zu entschuldigen. Auch er behielt recht, wie die Iren später kleinlaut zugaben.
Lübkemeier hat jedoch insofern recht, dass Irland das ideale Land ist, um seinen Kopf in den Sand zu stecken, wie es die Iren ohnehin gerne tun. Sie werden erst aktiv, wenn es um ihre eigene Pelle geht („not in my backyard“) und dann meist in der Form eines Pubbesuchs mit Stammtischweisheiten oder auf dem Sofa mit Kommentaren in den sozialen Medien.
Touristen erschließen sich solche Feinheiten verständlicherweise nicht. Sie sind ja auch im Urlaub.
Jürgen, geben sie doch einmal ein paar Kostproben aus ihrem Buch zum Besten. „The Irish Way. Sorglose Zeiten in Irland“ ist doch ihr Buch?
Hallo Markus, bei vielen Anbietern, Thalia Amazon,z.B. sind Leseproben natürlich kostenlos über viele Seiten möglich. Ich kann Dir wenn Du möchtest gerne per pdf das ganze Teil zuschicken. Kostet nix. Habe eben erst Dein Interesse bemerkt. So long Jürgen.
Hallo Jürgen Fischer,
ich bin Dein alter Freund Siegmar aus Kindertagen in Speyer.
Leider kann ich Dich nur über diesen Kanal vielleicht finden.
Habe heute mit Deinem ehemaligen Spieler beim FV Speyer dem Cairo über Dich gesprochen.
Ich lebe Übrigens auch auf einer Insel, nämlich Gozo.
Es grüßt Dich jetzt temporär in Speyer
Siegmar