Irland im Herbst

 

Irland im Herbst. Ein fabelhafter irischer Sommer, einer der besten in den vergangenen drei Jahrzehnten, ist vorbei. Jetzt übernimmt kühles und nasses Wetter die Regie vor der Haustür. Die Nacht- und Früh-Temperaturen sind im einstelligen Bereich angekommen, die Pegel der Flüsse und Seen steigen. Politisch stehen die Zeichen für Irlands Regierungsparteien ebenfalls auf Herbst, und das große C hat über den Sommer seinen Schrecken verloren. Heute mal wieder ein kurzer Lagebericht über das Leben in Irland.

Nach einer hervorragenden Saison zählt man in Irlands Tourismusregionen fröhlich die Gewinne. Die Irinnen und Iren waren von höchst vorsichtigen Corona-Politikern mit Zuckerbrot und Peitsche zur Staycation ermuntert worden, zum Ferienmachen im eigenen Land. Auch wenn vier Tage Killarney teurer sind als eine Woche Spanien, Portugal oder Türkei: Viele Menschen lernten tatsächlich ihre eigene Insel besser kennen, nur um hinterher mit ihren üppigen Ferien-Budgets zu protzen. Ein renommierter Irish-Times Autor entblödete sich nicht, den Lesern vorzurechnen, wie seine fünfköpfige Kernfamilie auf zwei Kurz-Urlauben im eigenen Land in drei Wochen fast 10.000 Euro verbraten hat. Die Zeit der Bescheidenheit jedenfalls ist vorbei in Irland. Hotels, B&Bs und Restaurants haben nach der staatlich großzügig gelinderten Coronapause großen Appetit auf das Geld ihrer Gäste – und diese hatten mangels Gelegenheit zum Ausgeben oft reichlich angespartes Cash dabei und ließen es ordentlich krachen. In den Ferienhochburgen des Landes ist man deshalb ziemlich zufrieden: Auch ohne den üblichen Ansturm ausländischer Irlandfans aus Little Britain, aus Europa und den USA stimmt bei den meisten Tourismus-Betrieben die Kasse.

Noch immer genießen die Ir*innen neben dem leicht erodierenden Image der stets freundlichen Gastgeber den Ruf der freiheitsliebenden Rebellen. Je länger ich nun hier lebe, umso mehr frage ich mich, warum eigentlich. Wenn darunter zu verstehen ist, dass  man nachts heimlich das Auto eines ungeliebten Mitbürgers in Flammen  aufgehen lässt, dann wird lange eingeübtes Heckenschützentum mit Rebellion verwechselt. Die irische Regierung jedenfalls hatte in der Corona-Zeit sehr leichtes Spiel mit äußerst folgsamen “Insassen” und “Impflingen”. Erst zog sie einen der härtesten und längsten Lockdowns weltweit durch, dann setzte sie ohne jede Debatte eine Impfkampagne durch, der bis heute über 90 Prozent der Erwachsenen bereitwilligst folgten. Irland hat nun eine der höchsten Impfquoten weltweit, und demnächst sollen auch die Kinder dran sein. Aufgrund fehlenden Widerstands konnte die Regierung auch ohne Weiteres von 2G  als Grundeinstellung des Ausnahmezustands ausgehen ( Zugangs-Privilegien nur für Geimpfte und Genesene): Während in anderen Ländern Europas wenigstens am Rande die fehlenden Freiheitsrechte der Ungeimpften thematisiert wurden, gibt es hier kein Problembewusstsein für den jeder Demokratie sehr gut stehenden Minderheitenschutz: Entweder man ist geimpft oder hat eben vor der Pub- und Restaurant-Tür im Freien Platz zu nehmen, zusammen mit den Rauchern und Bello. Es geht eben nichts über ein Pint im Freien.

Einreisen allerdings darf hier auch der Getestete. Beim Reise-Impfpass gelten seit dem Sommer schon die europäischen Bestimmungen. Wer geimpft, genesen oder getestet ist und dies im EU-Impfzertifikat nachweist, kann wieder problemlos nach Irland einreisen. Am vergangenen Samstag wurde zudem die Hotel-Quarantäne-Pflicht für Einreisende aus Hochrisiko-Ländern eingestellt, die Quarantäne-Hotels werden nun geschlossen. Schon seit dem 20. September kehren viele Arbeitnehmer nach eineinhalb Jahren Home Office in ihre Büros zurück, das sportliche und auch das kulturelle Leben nimmt allmählich wieder Fahrt auf. Es gibt mit Einschränkungen wieder Sportveranstaltungen und Kultur-Events. Nur die Ungeimpften, und das sind hier nicht viele, müssen erst mal noch draußen bleiben. Am 22. Oktober schließlich sollen die meisten restlichen Einschränkungen aufgehoben werden.

 

Neoliberale Politik hat die Gesellschaft in Besitzende und Habenichtse gespaltet

Die umfassende Handlungsfreiheit im Viren-Management bedeutet nicht, dass die Regierung insgesamt hoch im Kurs steht. Die Notgemeinschaft aus den beiden ehemaligen Groß-Parteien Fine Gael und Fianna Fall, beide rechtskonservativ und in der Programmatik kaum zu unterscheiden, wirkt dauerhaft angeschlagen. Die streng neoliberale Politik hat Irland zu einem gesellschaftlich zerrissenen Land gemacht. Das große Konfliktthema ist das Wohnen und der Besitz von Immobilien und Land. Eine jahrzehntelang versagende Wohnungs- und Siedlungspolitik hat den Konsens in der einstigen Hausbesitzer-Gesellschaft zerstört und die Menschen in zwei Lager geteilt: In Besitzer und Habenichtse. Wer heute ein Haus oder eine Wohnung besitzt, oder zumindest eines erbt, hat gut lachen. Denn junge, gut verdienende Menschen können sich angesichts schwindelerregend hoher Immobilienpreise noch nicht einmal eine heruntergekommene Bude leisten, geschweige denn ein ordentliches Haus. Wenn zehntausende finanzierbare Wohnungen und Häuser fehlen, während eben so viele leer stehen oder kurzfristig vermietet werden, wenn zigtausende junge Menschen, 3o-jährige Lehrerinnen oder 35-jährige IT-Manager, unfreiwillig bei ihren Eltern leben, weil sie sich weder eine Mietwohnung noch ein eigenes Apartment leisten können, dann birgt das gewaltigen sozialen Zündstoff.

Den Menschen auf der Insel wird aufgrund neuer Erkenntnisse zudem zunehmend bewusst, dass sie von den Altparteien seit Jahrzehnten eingeseift werden, wenn es um ihre Gesundheit geht. Das wohlhabende Irland hat noch immer eines der jämmerlichsten Gesundheitssysteme in Europa. Nur die Privat-Patienten werden hier gesundheitlich gut versorgt, alle anderen werden traditionell mit leeren Versprechungen therapiert. Seit über zehn Jahren wird den Menschen hier ein klassenloses und weitgehend kostenloses Gesundheitssystem für Alle versprochen. Das Rhetorik-Projekt ist unter dem Namen Slaintecare bekannt und klingt großartig. Die Realität ist eine andere: Wer nicht privat versichert ist, wartet lange auf eine Behandlung und stirbt dann einfach früher. Nach dem Rücktritt von zwei resignierten Slaintecare-Verantwortlichen vor wenigen Wochen wird den Menschen hier vollends klar:  Die Regierung hat gar nicht den politischen Willen, das Versprochene umzusetzen. Mit der viel bemühten irischen Solidarität ist es nicht mehr weit her – und so wartet die seit Jahren kontinuierlich erstarkende gesamt-irische Partei Sinn Fein auf ihre Chance beim nächsten Wahltag . . .

Ein Blick aus der Distanz auf Deutschland

Apropos Wahlen: Der Blick aus der Distanz der Wahlheimat auf die gestrigen Wahlen in Deutschland löste bei mir, wie schon der sich um Nichtigkeiten drehende Wahlkampf, schweres Unbehagen aus. Eine Allparteien-Allianz, die die globale ökologische Groß-Krise auf das Format eines technisch beherrschbaren Klimaschutz-Projekts reduziert und ansonsten mutlos system-immanent den alten Ritualen vertraut. Dazu eine Wahlbevölkerung, die überwiegend so weiter leben will wie bisher, die risikoscheu das Bewährte und das Vertraute einfordert und dazu noch ein gutes Gewissen pflegt: Wahlvolk und Politik blockieren und beschwichtigen sich gegenseitig, während die Krisen weiter eskalieren und die Kosten und Verluste in jeglicher Hinsicht steigen.

Erstaunt hat mich allerdings die Chuzpe des großen Wahlverlierers Armin Laschet, der für seine erschöpfte Partei nach fast 9 Prozent Verlusten und dem zweiten Platz hinter der SPD einen “Regierungsauftrag” erkannt haben will. Mit Spaß und Lindner will die rheinische Frohnatur regieren als ob nichts gewesen wäre. Wird er aber nicht. Laschet wird froh sein müssen, wenn er demnächst noch der Konrad-Adenauer-Stiftung oder seinem heimischen ACV vorsitzen darf.

Nach der Wahl ist vor der Wahl: Nun haben auch alle Menschen im Land die Wahl, endlich wieder sorgsamer, behutsamer und rücksichtsvoller miteinander umzugehen. Es ist erschreckend, welch totalitäre Züge der öffentliche Diskurs im Land seit den Lockdowns und, mehr noch, dem Beginn der Impfkampagne angenommen hat. Abweichende Meinungen, auch abweichende wissenschaftliche Positionen werden vom politisch-medialen Mainstream mittlerweile mit einer Schärfe bekämpft und ausgegrenzt, dass einem angst und bange um die demokratische Kultur im größten Land Europas wird. Was wissenschaftlich korrekt ist, was Fakt ist und was die Wahrheit, das bestimmt zunehmend ein radikalisierter Mainstream, der keine anderen Auffassungen neben sich duldet. Der gnadenlose Umgang mit der angesehenen Politikwissenschaftlern Ulrike Guérot spricht Bände. Sie hatte es gewagt, für eine neue Verständigung und eine Aussöhnung zwischen Corona-Mainstream und den ausgegrenzten Minderheiten einzustehen. Nun sieht sich sich an den Rand gemobbt, in die Ecke von “Schwurblern” und “rechten Verschwörungstheoretikern” gedrängt.

Nikolaus Blome (RTL-Politikchef und SPIEGEL-Kolumnist): »Ich hingegen möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.«

Es ist schon verwirrend, dass eine Zivilgesellschaft nicht nur den Freiheitsbegriff sondern auch die Verteidigung der bürgerlichen Freiheitsrechte selbst, traditionell die wichtigste politische Aufgabe der liberalen Kräfte, nun fast kampflos einer am völkischen Rand taumelnden Rechten überlässt und die (vermeintliche) Sicherheit auf Kosten der Freiheit über alles stellt. Wenn einstige Lichtgestalten der liberalen Elite, die Böhmermänner und Blomes dieser Republik zu Hetzrednern gegen Andersdenkende und abweichende Wissenschaftsmeinungen mutieren, wenn der Spiegel zum einfältigen Kampfblatt für die Corona-Politik der Regierung verkommt, dann müssen doch eigentlich die Alarmglocken schrillen.

Wir wissen längst, dass das herrschende einseitige Corona-Narrativ in mancherlei Hinsicht der Korrektur und der Aktualisierung bedarf. Vielleicht gelingt dies nun in einem entspannteren öffentlichen Diskussionsklima nach den Wahlen . . .

 

Titelfoto: Der Glanmore Lake, County Kerry, von Markus Bäuchle