Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], haben beschlossen, ein gemeinsames öffentliches Tagebuch zu schreiben über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .

14. März 2020, Samstag

Irland CoronaDer Regen will nicht mehr aufhören. Dem nassesten Februar in Irland seit Beginn der Wetteraufzeichnungen folgte eine verregnete und windige erste Märzhälfte. Die Felder stehen unter Wasser, die Tiere knöcheltief im Schlamm, die Bauern sind besorgt. Doch auch heute redet hier niemand vom Wetter. Das Coronavirus beherrscht alle Gespräche und öffentlichen Debatten. Die Zahl der bestätigten Covid-19-Fälle stieg in der Republik seit gestern von 90 um 39 auf 129. Das sind 43 Prozent mehr. Irland beklagt zudem das zweite Todesopfer. In Nordirland gibt es jetzt 34 nachgewiesene Ansteckungen, insgesamt auf der Insel damit 163.

Wir haben St. Patricks Day Wochenende. Auch das interessiert nicht sonderlich. Seit gestern sind Kindergärten, Schulen und Unis dicht. Museen und Sehenswürdigkeiten dazu. Es gibt keinen Fußball, kein Rugby, kein Gaelic Football, keine Gottesdienste, keine Patricks Day Paraden, keine Festivals und keine großen Familienfeiern zur Communion. Keine Ablenkung weit und breit. Angst und Sorgen überall. Wir könnten uns nun selber begegnen. Aber nein, wir haben ja die unsozialen Medien . . .

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Wir wissen, dass Angst, Sorge und Panik unser Immunsystem maßgeblich schwächen, dass wir nun umsichtig, vorsichtig, verantwortungsvoll, dass wir positiv, solidarisch, klar und liebevoll sein sollen, müssen und können. Dass wir gut schlafen und gesund essen. Um das leben zu können, um bei uns zu bleiben, hilft es besonders, den Konsum der sozialen Medien auf ein Minimum zu reduzieren oder ganz einzustellen. Facebook, die größte Dreck-, Gerüchte- und Lügenschleuder aller Zeiten hat wieder Hochkonjunktur. Die große Zeit der meist männlichen Rechthaber und Besserwisser, der Stänkerer und der Verharmloser (“. . . und wer spricht von den 21 Millionen Grippetoten?”)  scheint den Zenit zwar überschritten zu haben, doch die globale und gleichsam lokale Gerüchteküche kocht unter Volldampf. Falschmeldungen, Fehlinformationen, Übertreibungen, intellektuelle Tiefstflüge, Verzerrungen, Lügen und destabilisierende Desorientierungs-Kampagnen jagen um den Planeten und gleichzeitig durch die Dörfer.

Zuverlässige Informationen und klare Handlungsanweisungen, Hintergrundwissen und Orientierung liefern online derzeit vor allem die sogenannten traditionellen Medien. Ich lese den Guardian, der seit zweieinhalb Monaten schon einen hervorragenden globalen Überblick über das Thema Coronavirus bietet, dazu die Irish Times, den Irish Examiner und die Lokalzeitung Southern Star, und in der alten Heimat den Spiegel, die Süddeutsche Zeitung, Badische Zeitung, Basler Zeitung und Neue Zürcher Zeitung. Ich kann mir gut vorstellen, dass die alten Medien gestärkt als Gewinner aus dieser gewaltigen Krise hervorgehen werden.

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Hervorragende einzelne Beiträge gibt es jetzt vielerorts online, etwa bei Medium.com oder The Atlantic. Für mich ist dies eine Zeit des Lesens. Bei Medium.com habe ich den aufschlussreichsten Beitrag zum Thema gefunden, warum wir alle jetzt ganz schnell handeln müssen.  Der Beitrag von Thomas Pueyo ist Pflichtlektüre. [Nachtrag: Den Beitrag gibt es jetzt auch in deutscher Übersetzung: “Warum Du jetzt handeln musst“.]

Im Atlantic las ich mit Interesse, dass die Präsidentschaft von Donald Trump zu Ende sei. Das sagte der Börsenguru Nouriel Roubini vor zwei Wochen auch schon. In den vergangenen Tagen hat Trump nun auch seinen Anhängern endlich gezeigt, wie schwach und nachlässig er in Wahrheit ist. Das Virus und natürlich Trumps eigene Unfähigkeit und Bösartigkeit werden ihn wohl das Amt kosten. Oder wie ein kursierendes Internet Meme spottet: Welche Ironie, wenn ein chinesisches Virus, das nach einem mexikanischen Bier benannt ist, Trump stürzen würde . . .  Danach wird er sich um seinen darbenden irischen Golfplatz im County Clare kümmern können.

Dass Donald Trump Menschen aus Irland und Großbritannien weiterhin in die USA einreisen lassen wollte, alle anderen Europäer aber nicht, halten auch die Menschen hier auf der Insel nicht für einen großartigen Vorzug, sondern schlicht für das Ergebnis irrlichternder Unfähigkeit. Die Ausnahme wurde zudem gerade zurück genommen. Ab 4 Uhr morgens am St. Patricks Day (17. März) dürfen auch Reisende aus Irland und Großbritannien zunächst knapp einen Monat lang  nicht mehr in die USA einreisen (ab Mitternacht Ortszeit). Wir rätseln noch, ob und wie unser jüngster Sohn Ende März aus Kalifornien zurück nach Hause gelangen wird . . .

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Viel ist hier in den vergangenen Tagen von Hamster- und Panikkäufen die Rede. Lidl betreibt nun seit 20 Jahren Läden in Irland. Vorgestern, am Donnerstag, erlebte der Discounter den verkaufsstärksten Tag aller Zeiten. Als die Regierung die Schließung von Schulen, Kindergärten und öffentlichen Einrichtungen bekannt gab und von unnötigen Reisen in Krisengebiete abriet, als die Begriffe Social Distancing, Self Isolation und Home Office erstmals massenhaft von Mund zu Mund gingen, machten sich die Menschen in Scharen zum Einkaufen auf. Wie Lidl fuhren auch die anderen Supermarktketten, von Tesco über Aldi bis Supervalue und Spar, Rekordgewinne ein.

Natürlich sah man auch in Irland Fälle von Menschen die einen Doppelzentner Mehl, einen Kubikmeter Klopapier oder einen halben Hektoliter Süßgetränke nach Hause schleppten. Generell spricht aber nichts dagegen, wenn sich die Menschen jetzt einen Vorrat anlegen, mit dem sie zur Not auch einmal zwei bis drei Wochen in häuslicher Abgeschiedenheit über die Runden kommen. Das ist angesichts der zuverlässig arbeitenden Lieferketten des Lebensmittel-Handels noch nicht einmal rücksichtlos. Denn viele Menschen werden in den kommenden Wochen genau diese Erfahrung machen. Viele Menschen sind schon in die freiwillige Isolierung gegangen. Auch wir. Viele Unfreiwillige werden hinzu kommen.

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Heute, an diesem Samstag, wissen wir nicht, wo wir in Irland dran sind. Ein zweites Todesopfer ist zu beklagen. Die identifizierte Zahl angesteckter Menschen kletterte in der Republik innerhalb von 24 Stunden um 43 Prozent auf 129. Das ist ein rechter Sprung und lässt vermuten: Das Virus ist bereits weit verbreitet. Bislang wurden hier allzu wenige Menschen getestet, und eigentlich fiel nur auf, wer aus Italien zurück kam oder wer mit starken Beschwerden getestet wurde. In mehreren Fällen sind die Ansteckungswege nicht nachvollziehbar, man spricht verklausuliert von Community Transmission.

Seitdem die Regierung die Gangart am Donnerstag verschärft hat, drängen viele Menschen auf der Insel auf einen Test. Sie werden nun alle auf kommende Woche vertröstet. Man gewinnt den Eindruck, die Regierung und die Gesundheits-Dienste brauchen Zeit, um sich zu sortieren. Ausgegeben wurde heute die Devise, sich im Fall von einschlägigen Beschwerden selber zu isolieren und sich am Montagmorgen beim Hausarzt (unbedingt nur) telefonisch zu melden. Bis dahin sollen im Land mobile Test-Stationen aufgebaut werden, Drive-ins, die man mit dem Auto anfahren kann. Isolierte Daheim-Bleiber sollen von ambulanten Diensten getestet werden.

Das Militär wird mobilisiert und Hotels werden gesucht, in denen man Corona-Infizierte unterbringen und behandeln kann. Genaues weiß derzeit niemand, Überzeugend klingen diese Ankündigungen der Regierung zunächst nicht und es wird klar: Irlands Gesundheitssystem steht ein gewaltiger Kraftakt bevor. Irland sieht sich heute dort, wo Italien vor zwei Wochen stand – und wir alle hoffen, dass diesem Land italienische Verhältnisse erspart bleiben. Zum Vergleich: Deutschland verfügt bei mehr als 80 Millionen Menschen über 28.000 Intensiv-Betten, Italien mit 60 Millionen Menschen über 5000 Intensiv-Betten und die Republik Irland mit knapp 5 Millionen Menschen über 255 (Stand 2019). Wer rechnen will, rechne . . .

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Ich denke, dass wir alle zusammen am Beginn einer großen Prüfung stehen. Sie wird Leid und Not bringen, sie wird uns große Anstrengungen, Mut und Solidarität abverlangen. Sie wird uns auch neue Klarheit und neue Orientierung geben. (Dazu demnächst mehr hier im Tagebuch).

 

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In Irland geschlossen sind bis zunächst einschließlich 29. März 2020:

– Cliffs of Moher inkl. Cliff Walk von Doolin
– alle OPW Tourist Attractions /Sehenswürdigkeiten. Info und Übersicht hier: https://www.gov.ie/en/news/ae7a09-information-on-covid-19-coronavirus/
– Dursey Island Cable Car (Seilbahn)
– Mizen Head Signal Station
– Hook Head Lighthouse
– alle Cork County Council Tourist Büros
– Spike Island
– Book of Kells und Long Room im Trinity College Dublin
– National Museum of Ireland (Dublin und Castlebar)
– National Gallery of Ireland, Dublin
– diverse Bars in Dublin, z.B. Copper Face Jacks and Ohana Bar in der Harcourt Street, Zozimus in der St Anne’s Lane

Mit Einschränkungen geöffnet:
– Foto Wildlife Park, allerdings auf 500 Besucher beschränkt, Tropical House, Spielplätze und Tour Train sind geschlossen, im Restaurant reduzierte Anzahl an Sitzplätzen
– Blarney Castle & Garden geöffnet. Den Stein kann man bis auf Weiteres nicht küssen.

 

Fotos: Markus Bäuchle (2); Vignette: Eliane Zimmermann; Mitarbeit: Antje Wendel