Where the streets have no gain . . . St. Patricks Day 2020 in Glengarriff

 

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .

 

17. März 2020, Dienstag, St. Patricks Day

 

Irland CoronaJa ist denn schon Karfreitag? Heute feiert Irland seinen Nationalfeiertag. Es ist der stillste und wohl bedrückendste St. Patricks Day, den wir in den 20 Jahren erleben, seit wir hier in Irland leben und arbeiten. Die grüne Insel hat auch keine Mittel gefunden, das Coronavirus von seinen Grenzen fern zu halten. Deshalb hat Corona nun unser aller Alltag komplett auf den Kopf gestellt. Es ist nicht so, dass ich die grünen Leprechaun-Hüte, die Patricks-Parties, den kollektiven Rausch, den Trubel, die Trikolore an jeder Ecke oder die grünen Klamotten vermisse. Wenn die Dörfer und Städte am eigentlich fröhlichsten Tag des irischen Jahres allerdings wie an Karfreitag aussehen, dann bedrückt mich das schon sehr.

Wir mussten mal vor die Tür heute. Frische Luft gegen Cabin Fever, wie der Lagerkoller hier heißt. Die Luft tat gut, was wir sahen, weniger: Unser Wahlheimatdorf Glengarriff wirkte heute wie zwischen Karfreitag und Volkstrauertag gefangen. Die Pubs geschlossen, die Straßen leer gefegt. Dann und wann ein Einheimischer einzeln unterwegs, keine Gäste, kaum Autos. Dazu Regen satt. In einem touristenarmen Sommer vor 15 Jahren hatte die Tageszeitung Irish Examiner eine ganzseitige Reportage über das leidende Glengarriff in Anspielung auf einen Song von U2 mit der Headline überschrieben: “Where the Streets have no Gain”. Die Locals ärgerten sich damals maßlos über den lancierten Artikel. Heute würde niemand widersprechen: In den Straßen von Glengarriff ist derzeit kein Geld zu verdienen . . .

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Eigentlich. Ja, eigentlich ist der 17. März in Irland immer die Zeit, wenn sich erstmals nach dem Winter das öffentliche Leben wieder spürbar regt. Die Stille des Winters weicht erstmals der zelebrierten Lebensfreude. Das St. Patricks Day-Wochenende ist für viele Menschen ein erster großer Lichtblick im Jahreskalender, auf den sie sich lange freuen, den sie herbei sehnen. Doch dann tragen Reisende Corona über das Wasser auf die geografisch isolierte Insel – und aus ist mit der Freude. Der Tag, am dem Irinnen und Iren üblicherweise sich und ihr Land mit größtmöglicher körperlicher Nähe feiern, geriet zum Tag der Isolierung und des Getrenntseins. In den Städten Cork und Dublin irrten noch einzelne versprengte Touristengruppen orientierungslos durch die Straßen auf der Suche nach Spaß und Stout. Erfolglos. Sie werden die Insel zügig verlassen, das Land liegt im Shutdown, der Winter-Blues geht in die Verlängerung.

Immerhin. Der drittgrößten “Bevölkerungs”-Gruppe auf der Insel (nach Menschen und Rindern) scheint Corona gar nichts auszumachen. Die Schafe gehen munter ihrem Geschäft nach, mähen Rasen und ziehen ihre Kinder auf. Überall staksen jetzt die Lämmer durch die wassergetränkten Wiesen und nehmen jede kleine Aufregung zum willkommenen Anlass, bei der Mutter auf einen Beruhigungsschluck anzudocken. Das Gras ist schon schön grün; wenn jetzt die Sonne den Osterglocken im Leuchten noch etwas mehr Konkurrenz macht und nebenbei den Boden trocknet, dann läuft das Ding zumindest für die flauschigen Vierbeiner in die richtige Richtung.

 

Irland Corona

Patricks Day 2020: Rasen mähen und Kinder groß ziehen . . .

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Informations-Druck. Seit einer Woche beschäftige ich mich nun überwiegend und mittlerweile im Übermaß mit einem einzigen Thema: Coronavirus. Ich las und recherchierte jeden Tag stundenlang, versuchte möglichst viele Aspekte dieses komplizierten Themas und des daraus resultierenden gesellschaftlichen Groß-Experiments zu verstehen. Gestern dachte ich vorübergehend, mir platzt der Kopf vor lauter neuen Fakten, Informationen, Bewertungen. Ich habe mich im Alltag mit Corona noch nicht richtig eingefunden. Doch ich bin hoffnungsfroh und auf dem Weg: Ganz allmählich kehrt mehr Ruhe ein. Dies ist eine einzigartige Zeit der ständigen Anpassung und der Neuorientierung. Ich sehe die Risiken und die Gefahren, ich sehe auch die Chancen und die Potenziale dieser gewaltigen globalen Krise.

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Eigentlich. Ja, eigentlich wollte ich heute ausführlich darüber berichten, dass man sich um die Menschen hier auf der Insel vergleichsweise weniger Sorgen machen muss. Doch das kann nun, auch angesichts der vorgerückten Zeit, bis morgen oder übermorgen warten. Nur so viel: Die Irinnen und Iren sind Weltmeister in sozialer Krisenbewältigung. Sie haben im Lauf ihrer Geschichte so viel Leid, Niederlagen, Tiefschläge und Härten durchlitten, dass sie heute – abgesehen von ganz leichten Wohlstandsermüdungen – hart im Nehmen und stark im Geben sind. Vor allem aber: Sie sind in der Not eine solidarische Gemeinschaft. Die Erinnerung an die schweren Zeiten prägen das kollektive Gedächtnis, und die Menschen hier verfügen mehr als anderswo über die wichtigen Eigenschaften, die eine Gesellschaft am Ende zusammenhalten: Gemeinschaftsgeist, Solidarität, Liebe, Respekt, Fürsorge, Freundlichkeit und Nächstenliebe. Es gibt hier genug von dieser in guten Zeiten manchmal schlummernden Ressource, und das fühlt sich auch für uns als Citizens by Choice oder Blow-ins, wie man hier sagt, stimmig und gut an.

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Die Tages-Statistik: Die Zahl der identifizierten Covid-19-Fälle stieg in der Republik Irland seit gestern  um 69 von 223 auf 292. In Nordirland sind 62 Fälle bekannt (plus zehn). Damit gibt es Stand Dienstagabend 354 bestätigte Covid-19-Fälle auf der Insel.

 

Fotos: Markus Bäuchle Vignette: Eliane Zimmermann