Irland Corona

Am Friedhof in unserem Dorf in West Cork blühen die Kirschen

 

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreiben Eliane und Markus . . .

 

16. März 2020, Montag

 

Irland CoronaDa blühen sie. Als gäbe es kein Morgen. Die Kamelienblüte nimmt in diesem Tagen so wunderschön an Fahrt auf. Blüten über Blüten, faszinierende Formenvielfalt, alle Schattierungen von weiß, rosa, babypink, blutrot und karminrot. Sie stören sich nicht an all den verstörenden Nachrichten, die uns Menschen alle paar Stunden erreichen. Die Kirschblüten am Friedhof auch nicht.

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Unser Immunsystem. Es wird in diesen Tagen und Wochen gefordert. Strapaziert aufs Höchste. Denn selbst uns wenn kein einziges dieser angeblich so fiesen Coronaviren umzingelt, die Hiobsbotschaften fordern dennoch ihren Tribut. Unser Körper und unsere Seele befinden sich im Stress, uralte Fluchtmuster versuchen uns zu animieren: “Hau ab, Gefahr im Verzug, sogar Lebensgefahr droht.” Doch wir können ja gar nicht abhauen, so sehr wir es auch wollen, die Regierungen  beschneiden nach und nach die Freiheitsrechte der Bürger. Selbst ein Spaziergang unter den ersten Kirschblüten ist an einigen Orten nicht mehr möglich.

Ich sah vor zehn Tagen – in den frühen Tagen der “Coronakrise” – Überschriften, die mich ärgerten. “Deadly Virus is here” (fast die gesamt Titelseite von The Echo am 6.3.2020). Auch wenn ich dieses Blatt nicht lese, so schrieen mich doch diese 17 Lettern mit ihrer mindestens 120 Punkt-Größe laut an, während ich an der Kasse des Supermarktes anstand (geht das: “optisch laut”?). Kurz danach berichtete unser sympathischer Briefträger, dass an einigen Gartentoren oder Häusern Schilder angebracht wurden: Die Post solle ab sofort nicht mehr persönlich ausgehändigt werden.

Wenige Tage später “brüllte” es aus einer irischen Facebook-Seite von Menschen, die ich persönlich kenne: “This is the couple that survived Covid-19”. Eigentlich eine tolle Nachricht, sie war auch verpackt unter “Finally some good news.”. Das Wort “überlebte” ist mir jedoch zu reißerisch, geradezu gefährlich. Denn es suggeriert unter dem schein-positiven Ausruf, dass es etwas Besonderes sei, diese Krankheit zu überleben. So ein heimtückisches Wörtchen – in diesem Zusammenhang aufgeschrieben – vermag sicherlich bei sehr vielen Menschen, die nun ohnehin total verunsichert und eingeschüchtert sind, noch größere Ängste auszulösen. [e]

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Mir fällt zu all dem Chaos der Nocebo-Effekt ein. Das ist der kleine, unscheinbare Bruder des viel verschrieenen Placebo-Effektes. Bei seelisch offenen und verletzbaren Menschen kann sich eine sehr schädliche gesundheitliche Wirkung durch das tagelange oder gar wochenlange Ausgesetztsein von beängstigenden  Nachrichten bilden. Für das Auslösen des Nocebo-Effektes ist ein als belastend empfundener äußerer Einfluss ausreichend, es braucht noch nicht einmal einen naturwissenschaftlich begründbaren Zusammenhang zwischen der belastenden Situation und der negativen Wirkung zu existieren. Stress löst also noch mehr Stressgefühle aus.

Soll ich dem Versprechen von Vize-Premierminister Simon Coveney wirklich trauen? “Wir erwarten in der nächsten absehbaren Zeit keine dramatischen Botschaften.” Er bezieht sich in seiner Nachricht auch auf zahlreiche Fake News, die in den Unsozialen Medien die Runde machen und mahnt, man solle der Regierung trauen und sehr gut überprüfen, von wo welche Meldungen stammen. “Niemand verheimlicht der Öffentlichkeit etwas” versichert er ergänzend. “Wir werden keine Flughäfen und Flüge zwischen Irland und dem Vereinten Königreich schließen” bemüht er sich zu versprechen.

Doch dann vernehmen wir nur zweieinhalb Stunden später aus der gleichen Zeitung, dass Ryanair, diese fliegende Nabelschnur Irlands in die kleine weite Kurzflieger-Welt, davon ausgeht, in den nächsten 7 bis 10 Tagen 80 Prozent oder sogar alle Flugzeuge am Boden zu lassen. Eine fast identische Ankündigung kommt von Aer Lingus, der großen alten grünen Airline. 20.000 irische Touristen werden diese Woche vor allem aus Spanien noch heim geflogen. Ryanair schickte sogar zwei außerplanmäßige “Rettungs-Flieger” (‘rescue planes’) nach Polen, um Menschen einzusammeln, die keinen normalen Linienflug mehr buchen konnten. [e]

 

Irland Blütezeit

Die Kamelien blühen jetzt in voller Pracht Sie zu bestaunen bringt Ruhe und lässt die Kaskade schlechter Nachrichten für Momente vergessen.

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Der vorsichtige Optimismus, den Simon Coveney versucht zu vermitteln, war für viele Menschen sicherlich nur von kurzer Dauer. Vermutlich genau so kurz, bis die nächsten Verordnungen an die Türen klopfen: Unser Paketbote, der immer mit Hinz und Kunz, mit Paddy und Mary plaudert, rechnete heute Vormittag fest damit, dass die Restaurants in den nächsten Tagen schließen werden. Doch er werde bis zum Ende dieser Krise fahren dürfen, meint der entschlossene Mann. Schließlich helfe er ja, die Versorgung wenigstens minimal sicher zu stellen. Zumindest mit Medikamenten. Möglicherweise auch mit Corona-Tests.

Bei der Flut von negativen Nachrichten aus ganz Europa, aus aller Welt ist es nicht einfach, sich diesen Stress vom Leib zu halten, seine Seele einigermaßen sauber zu halten. Hoffen wir, dass nicht noch mehr Menschen dieser seelischen Tortur zum Opfer fallen. Denn es ist nicht erwiesen, ob all die bisherigen Toten, wirklich WEGEN Corona verstarben, oder ob ihr Körper, wie bei so vielen anderen Keimen auch, einfach nur ein temporärer Gastgeber war. Vielleicht hat auch die Macht der Panik und der negativen Suggestionen viele zermürbt. [e]

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In der entscheidenden Phase: Irlands oberster Gesundheitswächter, Tony Holohan, hat an die Menschen hier appelliert, die kommenden sieben Tage an einem Strang zu ziehen und alles zu tun, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Die nächsten sieben Tage, so der höchste Beamte im Gesundheitsministerium, seien entscheidend, um die Ansteckungskurve abzuflachen. Wenn dies nicht gelingt, droht dem Gesundheitsdienst auf der Insel der Kollaps. Holohan gab für uns alle hier sieben eiserne Regeln aus. Die wichtigste: Reduziere die sozialen Kontakte: Treffe maximal eine Handvoll Menschen in Deinem Netzwerk. [m]

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Ein letztes Glas im Stehen. Unter den irischen Wirten geht die Angst um – und der Satz, dass viele Pubs, die gestern vorerst ein letztes Mal geöffnet hatten, ihre Türen nie wieder öffnen werden. Es steht zu befürchten, dass die bevorstehende Durststrecke vielen ohnehin darbenden Kneipen den Rest geben könnte. Vielleicht haben deshalb gestern Nacht etliche Pubs hier in unserer Nähe die Sperrstunde noch einmal eigenwillig verkürzt: Es wurde hier und dort bis in die frühen Morgenstunden des Montags gefeiert und getrunken. [m]

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Noch mehr Shutdown: Der Gaststättenverband hat die Regierung mittlerweile aufgefordert, ein klares Wort zu sprechen und nach den Pubs die Schließung aller Gaststätten im Land noch vor dem St. Patricks Day anzuordnen. Die Regierung will jedoch offensichtlich einen Teil der Restaurants noch immer offen halten. Ab morgen vor verschlossenen Türen stehen werden jedenfalls die Zocker auf der Insel: Die Wettbüros von Paddy Power machen landesweit dicht.

Derweil schickt die Polizei 200 zusätzliche Einsatzwagen und 20 Prozent mehr Gardai auf die Straßen. Sie sollen Präsenz zeigen und kontrollieren, ob die Menschen die Anweisungen befolgen. Für die Männer und Frauen in Blau heißt es jetzt Überstunden schieben; auch die Polizei-Azubis werden in den kommenden Wochen vollen Einsatz zeigen müssen. Sie haben zu tun, während bereits rund 140.000 Menschen in der Republik ihren Job zumindest vorübergehend verloren haben. Betroffen sind vor allem Beschäftigte in Restaurants und Pubs sowie in Kinderkrippen und Kinderbetreuungen. [m]

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Start mit Hindernissen: Jetzt soll in Irland auf Covid-19 getestet werden, was das Zeug hält. Weil Tests lange fehlten und in der Breite für nicht nötig gehalten wurden, steht die Regierung unter Druck, die Coronavirus-Tests schnell und drastisch auszuweiten. Getestet wird jetzt flächendeckend nach Symptomen und nicht mehr wie bislang nach geographischen Kriterien. Der nationale Gesundheitsdienst HSE ist nun zentraler Ansprechpartner. Hausärzte dürfen wegen Corona nur telefonisch konsultiert werden, diese sollen Patienten dann online zum Test anmelden. Das heute morgen gestartete Online-System Healthlink zur Buchung von Virentests brach wegen Überlastung zusammen, die Anfragen mussten per guter alter Email eingereicht werden.

Getestet wird nun in Drive-in-Centern und ambulant bei den Menschen zuhause. Es wird damit gerechnet, dass damit die Fallzahlen drastisch in die Höhe schießen werden. Irlands größtes Football-Stadion Croke Park, das Heiligtum des irischen Nationalsports, wird derweil zum Virentest-Zentrum umfunktioniert. [m]

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Letzte Nachrichten:  Die Regierung rät jetzt von allen nicht notwendigen Reisen aus und nach Irland, einstweilen bis zum Monatsende, dringend ab. Menschen die nach Irland einreisen oder zurück kehren, müssen ab sofort mit der Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit rechnen. Das gilt auch für Reisende aus Großbritannien, nicht aber aus Nordirland.

Premierminister Leo Varadkar rechnet damit, dass die Zahl der identifizierten Covid-19-Fälle nun jeden Tag um 30 Prozent steigen wird. Innerhalb von zwei Wochen geht Varadkar von 15.000 Fällen aus. Die Regierung versucht fast schon verzweifelt, zusätzliche Beatmungsgeräte zu beschaffen. Die Verbreitung sei nicht zu stoppen, nur zu verlangsamen, sagt der Regierungschef.

Der Kampf gegen die Zeit hat endgültig begonnen.

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Die Tages-Statistik: Die Zahl der identifizierten Covid-19-Fälle stieg in der Republik Irland seit gestern von 169 um 54 auf 223. In Nordirland sind 52 Fälle bekannt. Damit gibt es Stand Montagabend 275 bestätigte Covid-19-Fälle auf der Insel.

 

 

Fotos & Vignette: Eliane Zimmermann (2), Markus Bäuchle