Irland Corona

Was ist anders, was normal?

 

18. April 2020, Samstag.

 

Irland Corona

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .

Das Winter-Leben geht weiter. Aus Deutschland wird uns berichtet, dass die Menschen Sehnsucht nach der alten Normalität haben und gerne die vorsichtigen kleinen Öffnungsschritte als große Schritte in die vermisste Freiheit deuten. Dass physische Distanzierung, Vor- und Rücksicht in der lockenden warmen Frühlingssonne leicht schon wieder vergessen werden. Hoffentlich geht das mal gut.

Hier auf dem Land in Irland haben sich die Menschen auf weitere Wochen in der neuen C-Normalität ohne große Probleme eingerichtet. In unserem Leben hat sich nicht schrecklich viel geändert. Wir leben etwas zurückgezogener noch als bisher. Die Tage werden wärmer, und wir wundern uns ein wenig, dass wir das Winter-Leben einfach in den Frühling hinein weiter leben. Demnächst wird keine Wander-Saison beginnen. Es werden keine Gäste kommen. Wir verharren im Winter-Modus. Lange noch. In diesem Jahr ist der Winter gekommen, um zu bleiben.

Ich erinnerte mich heute morgen an eine liebe Freundin aus der Großstadt, die uns vor Jahren hier am Atlantik besuchte. Nach drei Tagen war sie mit den Nerven völlig fertig. Diese ohrenbetäubende Stille, diese Monotonie, diese Reizarmut, dieser Mangel an Freizeit- und Kulturangeboten. Sie hielt das nicht gut aus. Manche Menschen sind froh, wenn sie diesen Ort (wieder) verlassen können. Auch die jungen Menschen mit Plänen und Ambitionen gehen von hier weg.

 

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Mick Flannery

Mick Flannery live daheim

 

Die Kultur kommt zu uns. Ich habe die Kultur hier im irischen wilden Südwesten nie vermisst. Wenn ich mich dazu entschließe, ein Konzert zu besuchen, dann ist es mein Wunsch, der mit berechtigtem Aufwand verbunden ist – und nicht ein schneller Zeitvertreib, weil es gerade nichts Besseres zu tun gibt. Ich fahre eineinhalb Stunden in die Stadt. Das ist die Vorbereitung. Die Nachbereitung des Vergnügens geschieht in umgekehrter Richtung, spät nachts zurück, müde durch die Dunkelheit. Wenn der Abend gut war, bereichert und beseelt.

Manche Dinge ändern sich. Früher fuhren wir mit den Kindern mindestens 45 Minuten ins nächste Kino (Harry Potter etc). Dann kehrte das Kino in unsere kleine Stadt zurück. Es folgten iTunes und Netflix. Gestern nacht erlebte ich das erste Live-Konzert eines verehrten Musikers daheim. Karl Lagerfeld hätte mich verachtet: Konzert-Besuch in der Jogging-Hose.

Auch Mick Flannery sitzt in seinem Haus fest. Irgendwo im County Clare zieht er seine Bahnen in der Zwei-Kilometer-Zone. Seine 2020-Tour ist beendet, bevor sie begann. Gestern nacht gab Flannery sein erstes Online-Konzert mit Ticketing (15 Euro für 75 Minuten Gig). Leicht füllt Mick das Cork Opera House und andere große Hallen. Doch er geht auch gerne klein. Gestern spielte er in einem Mini-Zimmer seines Hauses, eingequetscht zwischen E-Klavier, Gitarre und Wand. Tolle Songs, die volle Ladung Melancholie, die ich so liebe. Dabei auch Micks legendäre Schüchternheit. Sie macht selbst vor einer kleinen Kamera nicht halt, die den Live-Gig über Zoom in die Zimmer der Gäste schickte.

Das ist eine grandiose neue Erfahrung: Mein irischer Lieblingsmusiker spielt live auf der rechten Bildschirmhälfte, ich könnte ihm schnell eine Frage schicken, wenn ich wollte. Auf der linken Bildschirmseite beantworte ich eine Email. Mick beendet den Gig mit einem Song von Tom Waits. Ich klatsche ungehört vor mich hin und gehe ins Bett.

 

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Brand Irland

Das bleibt: Verbrannte Erde

 

Das Osterfeuer lodert. Manche Dinge ändern sich wohl nie. Das Osterfeuer ist fester Bestandteil des irischen Brauchtums – wenn auch nicht in der christlich-heidnischen Ausprägung, wie man sie auf dem Kontinent kennt. Immer im April, wenn das Frühjahrshoch das Wetter bestimmt und der trockene, kalte Ostwind weht, zünden feuer-lüsterne Zeitgenossen Weiden und Berge an. Die Ginsterfeuer der Farmer und die Debatten über sie haben eine lange Tradition in Irland.  Wenn frühmorgens kurz vor 3 Uhr die Feuerwehr vor dem Haus steht und die Umgebung mit geisterhaft blinkendem Blau ausleuchtet, weil sich in ein paar hundert Metern Entfernung ein ausgewachsenes Feuer an der Küste entlang frisst, dann hat das mit Farming und Schafen allerdings nichts zu tun. Da sind dann Pyromanen, Profiteure und Übelmeinende am Zündeln. (Das Titel-Foto oben zeigt die Brandstelle im Überblick).

In der Nacht auf Donnerstag war es wieder mal soweit. Ein Feuer teilte meine Nachtruhe in zwei Teile. Trotz milder Gewalt-Phantasien schlief ich wieder ein.

 

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Irland Corona

Verbreitung des Coronavirus in der Republik Irland Mitte April

Und das Leben ändert sich doch. Natürlich verändert das große C auch das Leben hier im ländlichen Irland. Die Einschläge kommen näher. Jeder kennt jetzt jemanden . . .  Die Regierung hat es mit ihren drastischen Maßnahmen dennoch geschafft, die Reproduktionsrate so zu senken, dass das fragile Gesundheitssystem den zunehmenden Erkrankungen bislang stand halten konnte.

Die Grafik der roten Punkte auf einer Irland-Karte zeigt die Ausbreitung der bekannten Corona-Infizierungen in der Republik. Hier im Südwesten gibt es noch viel Weiß. Als rote Hotspots leicht zu erkennen sind die Großstädte Dublin und Cork. Ein Bild sagt wieder einmal mehr als tausend Zeilen . . .

Auch dieses Bild weiß allerdings nichts vom größten Leid der Menschen auf der Insel: Sie leiden am meisten darunter, dass sie ihre Kranken nicht besuchen, ihre Sterbenden nicht begleiten und ihre Toten nicht ordentlich beerdigen dürfen. Keine Totenwache, kein Trauerzug. Das große dreiteilige Ritual der Totenverabschiedung ist im Namen der Sicherheit zu einem kurzen formalen Akt unter Ausschluss der Trauergemeinden zusammengestutzt worden. Nur zwei Handvoll Angehörige sind zur Beerdigung zugelassen. Das macht viele Menschen tief traurig.

Der Philosoph Giorgio Agamben hat mit Blick auf Italien seine Bestürzung geäußert, wie in Zeiten von C leichtfertig ethische und politische Prinzipien preisgegeben wurden und wie schnell die Kultur implodierte. Agamben ist vor allem verstört über den Umgang mit den Toten. In der NZZ vom 15. April schreibt er:

 

Wie konnten wir nur im Namen eines Risikos, das wir nicht näher zu bestimmen vermochten, hinnehmen, dass die uns lieben Menschen und überhaupt alle Menschen in den meisten Fällen nicht nur einsam sterben mussten, sondern dass ihre Leichen verbrannt wurden, ohne bestattet zu werden? Dies ist in der Geschichte von der mythischen griechischen Königstochter Antigone bis heute nie geschehen.

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Da ich an die Verantwortung von uns allen erinnert habe, komme ich hier nicht umhin, die noch schlimmere Verantwortung derjenigen zu erwähnen, die die Aufgabe gehabt hätten, über die Würde des Menschen zu wachen. Vor allem die Kirche, die – indem sie sich zur Magd der Wissenschaft gemacht hat, welche mittlerweile zur neuen Religion unserer Zeit geworden ist – ihre wesentlichen Prinzipien radikal verleugnet.

Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte. Sie hat vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten.

 

Starke Worte, die mich nachdenklich machen: Auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten . . .

Wir opfern unsere Seelen, damit unsere Körper überleben.

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PS: Hier auf Irlandnews wird es in den kommenden Wochen ruhiger zugehen. Die Fastenzeit liegt zwar hinter uns, ich verspüre dennoch unbändige Lust auf ein ausgedehntes Internet- und Computer-Fasten. Das Leben draußen und das Schreiben rufen. Ich gehe . . .

 

Fotos: Markus Bäuchle Vignette: Eliane Zimmermann