Irland Corona

 

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .

 

23. März 2020, Montag.

 

Irland CoronaEs ist schon erstaunlich. Kaum haben wir die Initial-Schocks einigermaßen verdaut, kaum haben wir uns ein wenig an die neue Normalität des permanenten Ausnahmezustands gewöhnt, schon malen uns die Auguren und „Visionäre“ eine künftige Welt nach Corona in bunten Farben. Begnadete Dampfplauderer, die das vermeintliche Kunststück beherrschen, auf einer Glatze Locken zu drehen, lassen aus Re-Gnose-Raupen schillernde Schmetterlinge schlüpfen und dazu Bilder einer hellen Zukunft. Selbst ober-nüchterne Zahlenmenschen wie der deutsche Vize-Kanzler wähnen schon das neue Zeitalter der Solidarität am Horizont aufziehen.

Historiker, üblicherweise für die Vergangenheit zuständig, blicken derzeit zurück, um uns dann die Zukunft zu deuten. Ihre Referenz-Zeit sind plötzlich nicht mehr die Goldenen Zwanziger Jahre, es ist das Frühjahr 1918, das Jahr der katastrophalen „Spanischen“ Grippe, die ihren Anfang wohl in den USA genommen hatte und zum Ende des Ersten Weltkriegs 25 bis 50 Millionen Menschen das Leben verkürzte.

Es gibt einen großen Bedarf an Zukunft. Zu viel Perspektivlosigkeit hat sich in den vergangenen 20 Jahren in uns aufgebaut. Unser welt-zerstörerisches Hyper-Wohlstandsprojekt des „Immer noch Mehr“, wir wussten es ja insgeheim, war auf Sand (mit Plastikpartikeln) gebaut. Wie aber aussteigen, wenn die Freunde und Nachbarn, die Kollegin und der Chef im Weiter-So-Auto-Modus navigierten – und die Einpeitscher in Wirtschaft und Politik das ewig gleiche Lied im Wachstums-Chor pfiffen.

Wir konsumierten, als gäbe es kein Morgen. Wir erkennen allmählich: Das war Konsum-Punk pur. Wir alle waren ein bisschen Janis Joplin: Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz. Und bitte noch einen vierten Kurzurlaub im Jahr. Wir alle waren ein bisschen Johnny Rotten: Wir spielten gnadenlos No Future für Hedonisten.

Und jetzt? Der Corona-Zug rollt ungebremst, keiner kann ihn im Moment stoppen. Die Globalisierung legt (zumindest) eine Pause ein, Europa zerfällt (zumindest vorübergehend) in seine Nationalstaaten. Wir verlieren Tempo, kommen zum Stillstand, zur Ruhe, können diese vielleicht gar nicht ertragen. Wir stehen vor einer gewaltigen kollektiven Anstrengung – und wir sehnen uns heute schon danach, dass diese sich lohnen wird. Wir arbeiten am Projekt Katharsis. Reinigung, Läuterung, dann: Goldene Zukunft. Belohnung eingepreist.

Aber so wird es vielleicht nicht sein. Die Zukunft liegt ungewiss und offen vor uns. Wir stehen gerade erst am Anfang einer langen Ausnahme-Phase, die wir nicht kennen. Wir müssen in den kommenden Wochen, wahrscheinlich Monaten, alle erst einmal unser Bestes geben, um diese Herausforderung zu bestehen und die Krise irgendwann zu beenden. Dabei ein Ziel vor Augen zu haben ist natürlich richtig, wichtig, motivierend und gut für die Stimmung. Also doch: Projekt Katharsis? Zumindest Sehnsucht nach Zukunft.

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Irland Angst

 

Ich komme aus dem Staunen immer noch nicht heraus. Fast die ganze Welt hat geschlossen. Wuhan ist nun fast überall. Ausgangssperren, Kontaktsperren, Bewegungsverbote. Geschlossene Städte, Geschäfte, Unternehmen und Kultur-Tempel. Ganze Kontinente machen Pause. Vorgezogene Osterferien für die Welt. Wie ist es möglich, dass die Staaten der vermeintlich freien westlichen Welt zügig und fast problemlos mit denselben Zwangsmitteln agieren können wie bislang nur autoritäre Regimes?

Es scheint, dass der neue globale Welt-Regent nicht aus der Politik kommt. Er heißt Angst. Seine Stellverteter sind die Panik und die Hysterie. General Commander Angst hält die Welt im Würgegriff – und die westlichen Eliten spuren. Denn die Corona-Krise verfolgt gerade auch sie hautnah. Jeder Atemzug kann auch über ihr Leben und ihren Tod entscheiden. Im Regierungsviertel in Berlin genauso wie in Westminster und in Washington.

Hier verhungern nicht mal eben, fast unbemerkt von der Wohlstandswelt, ein paar hunderttausend bettelarme Menschen irgendwo in Afrika. Diese Krise ist auch eine Krise der Eliten. Das Coronavirus diskriminiert nicht nach sozialem Status. Am meisten gefährdet sind jetzt erst mal nicht die üblichen Verdammten dieser Welt an fauligen Wasserlöchern in den Slums von Ganzweitweg. Die drei vom Corona-Virus am heftigsten attackierten Bundesstaaten in den USA sind Kalifornien, New York und Washington State – und nicht die Fly-over States zwischen den wohlhabenden Küsten.

Gefährdet sind jetzt vor allem auch die vielreisenden Globalisierung-Gewinner, die gut gebildeten, mobilen, privilegierten Menschen, die atemlos in schlecht gelüfteten Fliegern durch die Welt jetten, die weltweit bestens vernetzt sind, die bei Tagungen, Konferenzen, Meetings und Parties regelmäßig viele andere Menschen treffen, die zusammen an den Strippen der Macht ziehen. Täglich lesen wir von neu infizierten Politikern, Geschäftsleuten, Schauspielern. Das einsame Bäuerchen oder der wenig mobile Landmensch mit einem Bewegungsradius von maximal 20 Kilometern können sich dagegen ziemlich sicher fühlen.

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Soziale Distanzierung, eine Übersetzung des englischen Fach-Begriffs Social Distancing, gilt neben Händewaschen als das wichtigste Mittel gegen das Coronavirus. Die Psychologin Ulrike Lüken weist uns darauf hin, dass wir gerade massenhaft das falsche Wort benutzen. Denn nichts ist jetzt wichtiger als soziale Nähe. Wir sind verantwortungsvoll, rücksichtsvoll und solidarisch, wenn wir uns körperlich aus dem Weg gehen. In Gedanken und Gefühlen rücken wir zusammen. Wir sollten deshalb von physischer oder körperlicher Distanzierung sprechen (Physical Distancing), oder noch einfacher von physischem Abstand. Weil wir wissen: Worte schaffen Wirklichkeit.

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Sorry. Bis hierher waren das nun überhaupt keine Bemerkungen zu Irland. Das könnte man überall schreiben. Stimmt. Aber auch das Denken hört nicht an Landesgrenzen auf. Deshalb werde ich hier im Tagebuch in den kommenden Tagen und Wochen immer mal wieder auch generelle Gedanken zur Krise, zum Tag, zur Vergangenheit und zur Zukunft schreiben. Doch nun zum Leben in Irland . . .

Einen letzten Burger, zumindest einen von der globalen Bulletten-Kette mit dem gelben M genossen manche Menschen heute in Irlands Städten. Heute abend um 19 Uhr schloss McDonalds fürs Erste alle Filialen in Irland (und Großbritannien). Nicht falsch verstehen, das soll kein Beitrag zur besseren Ernährung der Menschen auf der Insel sein. Das Unternehmen kam wohl einer Schließungsverfügung zuvor, denn bei McDonalds und Co sind zwei Meter Körperabstand zwischen den Kunden eher die Ausnahme als die Regel. Ein Beitrag zur Gesunderhaltung ist es dagegen schon.

Die Post schaltet einen Gang runter. An Post führt ab sofort flexible und gestaffelte Arbeitszeiten überall dort ein, wo zuviele Menschen auf einem Fleck arbeiten. Dadurch wird sich die Zustellung von Briefen, Päckchen und Paketen bemerkbar verzögern. Die Sozialhilfe, die viele Menschen hier jede Woche am Postschalter abholen, wird zunächst einmal für zwei Wochen ausbezahlt.

Zu Tränen rührte ein Blumenhändler an Dublins Friedhof Glasnevin manche Besucher am gestrigen Muttertag. Er hatte sein Geschäft verantwortungsvoll geschlossen und eine handgeschriebene Notiz auf einem Tisch vor der Tür hinterlassen – zusammen mit kostenlosen Blumen. Das erste Mal in 26 Jahren hatte der Florist am Muttertag geschlossen und ermöglichte seinen Kunden dennoch, verstorbenen Müttern und Großmüttern ein paar Blumen aufs Grab zu legen.

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Die Tages-Statistik. Die Zahl der identifizierten Covid-19-Fälle stieg in der Republik Irland seit gestern um 219 auf 1125 (plus 23 Prozent). Das ist der größte Anstieg innerhalb eines Tages. Zwei weitere Menschen sind gestorben, es sind nun sechs Tote.

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Mal was anderes:  Zwei Rottweiler haben in Dublin einen achtjährigen Jungen schwer verletzt. Der Bub liegt im Krankenhaus, die Hunde der Familie ruhen schon im Hundehimmel. Das sind auch schlechte Nachrichten für uns und unsere Lucy. Die Angst vor Rottis sitzt hier bei vielen Menschen tief. Auch Lucy, ein Lamm im Rotti-Fell, verursachte alleine durch ihre Existenz schon viel Angst und Schrecken. Ihre Sanftmut hat gegen das schlechte Image keine Chance. Wie gut, dass wir gerade sehr sorgfältig Physical Distancing mit Leinenzwang praktizieren. [m]

 

 

Fotos: Markus Bäuchle; Bild: Der Schrei – Edvard Munch; Vignette: Eliane Zimmermann