Irland Corona

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Eliane . . .

 

22. März 2020, Sonntag. Muttertag.

 

Irland CoronaWie geht Pizza Coronara? Telefonisch bestellen und per Kreditkarte bezahlen. Ich bekomme einen Time Slot: 18:40 Uhr. Gebe Modell und Farbe meines Autos an. Ich fahre vor, parke und warte brav im Auto. Öffne die Tür der Rückbank. Andrew oder Laura vom Mannings Emporium bringen die Pizza zum Auto und stellen sie auf die Rückbank. Tür zu. Sieben Minuten Rückfahrt, Guten Appetit.

Der Vorrat an heimischen Kartoffeln und Bio-Nudeln, samt Kohl und Karotten ist zwar noch lange nicht aufgebraucht, doch irgendwie hat so eine Edel-Pizza aus dem urigen Holzkohleofen etwas Tröstliches, etwas Normales, etwas Erdendes, geradezu etwas Feierliches zum heutigen “Feiertag” (Söhnchen ist nach 24-stündiger Rückreise am späten Nachmittag in Dublin gut gelandet, leider ohne Koffer). Wer weiß, wie lange das Pizza-Bestellen überhaupt noch möglich sein wird. Ich genieße also jeden einzelnen Bissen meines Käsefladens mit dem guten Gefühl, zwei engagierte junge Feinschmecker-Zubereiter – fast von nebenan, nur Autominuten entfernt – samt ihrem kleinen Team zu unterstützen.

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Virentransfer per Flugverkehr. Ich war einst tatsächlich ganz kurz davor, meinen Traum vom Dauer-Fliegen wahr zu machen. Stewardess zu werden, diesen Wunsch hegte ich viele Jahre lang. Ich konnte mich sogar nach einem als sehr unschön empfundenen Bewerbungs-Marathon Mitte der achtziger Jahre  in Frankfurt qualifizieren: Beste Gesundheit, viele Sprachen, Etikette, Körperumfang, ich konnte mit allen strengsten Anforderung recht gut aufwarten. Doch blöde Sprüche ließen mich ahnen, dass der Traum vermutlich eher ein Albtraum werden könnte: “Sie haben in Zukunft immer eine neue Strumpfhose mitzuführen, Laufmaschen werden wir nicht tolerieren.” Ferner: “Wenn Sie nur ein Kilo mehr auf die Waage bringen, etwa weil Sie auf einer Party waren oder ihre Tage erwarten, ist Ihre Probezeit vorbei!“. Immer vorgetragen im Tonfall der Mädchen-Internats-Aufseherin. Aus die Maus, ich sagte ab. Flugzeuge liebe ich immer noch, stehe gerne auf Aussichtsplattformen von Flughäfen, denke gerne an so manche nette Gespräche auf Flügen zurück. Eine besonders freundliche Begegnung bei der Fluglinie mit dem grünen Kleeblatt hatte ich sogar in unserem Buch 111 Gründe Irland zu lieben festgehalten.

Bereits wenige Jahre nach der unglückseligen Bewerbungs-Erfahrung war ich super froh, dass mein zweiter Traum, ein Beruf im Bereich der Naturheilkunde, erfüllt wurde. In diesen aktuellen Tagen nun verspüre ich ein tiefes Mitgefühl für all die Pilot*innen und Flugbegleiter*innen, die tausende von Menschen noch schnell zurück in ihre Heimat fliegen müssen, die sich nun in den engen fliegenden Sardinenbüchsen mit verkeimten Miefquirlen erhöhter Gefahr aussetzen müssen. Auch den Mitarbeiter*innen an allen Flughäfen weltweit gehört meine Anteilnahme. Der Anblick der in der Luft befindlichen Flieger gestern spätabends (Screenshot 21. März 23.21 Uhr GMT) machte mich übrigens genau so ratlos wie in den Monaten zuvor, in denen ich Flüge von Freunden und Familie in Echtzeit verfolgt habe. Wenn bereits 95 Prozent der Lufthansa-Flieger am Boden stehen, und auch der für nächste Woche gebuchte Rückflug des Sohnemanns storniert wurde, dazu sicherlich noch unzählige andere Flugverbindungen: Wer ist denn da alles auf der Nordhalbkugel über dem Atlantik unterwegs?!

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Wasser und Seife, das Privileg.  In diesen Tagen (und wohl auch in den kommenden Wochen) wird vermutlich manchen Menschen bewusst, wie privilegiert wir trotz Einsperrungen und Zwangsverordnungen wir leben. Wie ich bereits bei einem der frühen Einträge dieses Tagebuchs schrieb, bin ich (fast) jeden Tag dankbar für den eigenen Tiefbrunnen und die eigene Klärgrube, sogar mit dem Kompostklo konnte ich mich überraschend gut anfreunden. Ich denke in diesen Tagen oft mit Grausen an all die eingepferchten Menschen in Flüchtlingscamps, in Griechenland und überall auf der Welt. Nicht auszudenken was passiert, wenn in diesen überfüllten Orten fast ohne hygienische Mindestbedingungen diese aktuelle (oder eine andere) Seuche ausbricht. Denn niemand dort wird sich ständig die Hände waschen können, schon gar nicht mit hygienisch einwandfreier Seife.

Im The Guardian lese ich zudem, dass Menschen in über Dreiviertel der Haushalte in der so genannten dritten Welt fast nie die Möglichkeit haben, sich “einfach so” die Hände zu waschen. Erschreckend verbreitet ist eine armselige Infrastruktur von Wasserversorgung, während wir unser sehr sauberes Trinkwasser benutzen, um unsere Sitzungen auf dem Thron unsichtbar verschwinden zu lassen. Während wir uns 20 Mal täglich die Hände 20 Sekunden lang waschen. Während skrupellose Konzerne Quellen für sich beanspruchen, den Zugang der Einheimischen zu ihrem Wasser verwehren. Mit dem Kauf jeder Flasche brauner Brause solcher “Multinationals” machen wir uns mitschuldig, mit jedem Schokoschmiere-Brötchen auch. Boykott ist leichter gesagt als getan, denn wir wurden Jahrzehnte lang über Funk und Fernsehen wie Pawlowsche Hunde konditioniert, diesen ernährungstechnischen Unsinn mitzumachen.

Bereits vor gut zwei Jahren berichtete diese Zeitung, dass in meinem Kindheitsland Brasilien sowie in vielen anderen Ländern, mehr als 8 Millionen Menschen sich mehr als 30 Minuten zu irgendeiner entfernten Wasserquelle bewegen müssen. Während nicht weit entfernt die knappen Wasserressourcen in Monokulturen mit Eukalyptus, Soja und Palmen gepumpt werden. Während durstige Rinder gemästet werden, damit auch morgen noch triefende Doppel-Burger den Cholesterinspiegel der “westlich” lebenden Konsumenten schön über dem gesunden Limit halten. Und was hat das mit dem Corona-Virus zu tun? Sehr viel, denn Monokultur und industrielle Tierhaltung begünstigen Krankheiten (von Tieren und Pflanzen), unterbinden genetische Vielfalt (weil Tiere und Pflanzen sich nicht mehr nach ihren jeweiligen Kriterien vermehren dürfen), eröffnen Krankheitskeimen und Schädlingen ungeahnte neue Möglichkeiten.

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Die Tages-Statistik: Die Zahl der identifizierten Covid-19-Fälle stieg in der Republik Irland seit gestern um 121 auf 906.  Vier Menschen sind gestorben (plus 1). Trotz aller Verlautbarungen sind in den nun 35 Test-Zentren landesweit insgesamt erst 13.000 Tests durchgeführt worden. Sechs weitere Test-Center sollen kommende Woche aufmachen, Das größte arbeitet mittlerweile im Football-Stadion von Cork, Páirc Uí Chaoimh, wo 1000 Tests pro Tag möglich sein sollen. Derzeit warten 40.000 Menschen in Irland darauf, endlich getestet zu werden. Die Wartezeit beträgt vier bis fünf Tage. 177 Menschen werden, Stand Sonntag, wegen Covid-10 stationär in irischen Krankenhäusern behandelt.  [m]

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Und zuletzt:  Das ist gelebte Solidarität: Einem Aufruf des irischen Gesundheitsdienstes HSE folgten bereits 50.000 Menschen. Sie alle wollen als Freiwillige mithelfen, die große Krise zu meistern. Viele pensionierte Ärzte und PflegerInnen kehren aus dem Ruhestand zurück und packen mit an. Das macht Mut und sorgt für gute Stimmung im Land! Heute war Muttertag, viele Großmütter konnten die Glückwünsche Ihrer Enkel nur durch Glasscheiben hindurch oder via Online-Gruß entgegen nehmen. Aber immerhin: Die zwischenmenschlichen Kontakte werden gerade wieder intensiver, obwohl wir zueinander auf Distanz gehen müssen. Auch das stärkt unsere Immunsysteme. Love is the cure. [m]

 

Foto: Canva, Vignette: Eliane Zimmermann, Screenshot: Flightradar24