Irland Corona

 

Corona-Tagebuch. West Cork, 27. März 2020, Freitag.
Die Schafe und wir.

 

Irland Corona

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .

Das Leben könnte jetzt so leicht sein. Es ist Frühling in Irland. Dass unsere Fotovoltaik-Anlage heute 13 Kilowattstunden Strom geliefert hat, bedeutet: Wir genossen viel Licht und Sonne. Die Menschen wirkten befreit, ja heiter, fröhlich, dabei bisweilen unvorsichtig. Dieses Wetter täuscht uns, blendet uns, lässt uns denken, dass alles normal und gut ist. Ist es aber nicht.

Den Lämmern auf den irischen Weiden ist das egal. Sie tollen herum, grasen, legen Gewicht zu und freuen sich des Lebens zwischen Mutter-Schutz, großer Freiheit und Schlachtbank. Wir waren heute auf den Schafswiesen unterwegs und haben uns über die Unbekümmertheit der Lämmer schweigend gefreut. Sind wir nicht alle ein bisschen Schaf?

Die Gesundheitsbehörden des Landes haben derweil streng lautende Appelle an die Menschen auf der Insel gerichtet, sich sorgfältig an die Einschränkungen und Regeln zu halten, um die schnelle Verbreitung des Corona-Virus wenigstens zu bremsen.

Nach vielen dunklen und nassen Wochen lechzen die Menschen hier nach Wärme, Sonne, Luft. Ausgelassenheit und Unvernunft liegen nahe beisammen. Paddy und Patty strömen in Scharen an die Strände und in die Parks. Warum Abstand halten, wenn das Leben so frisch und prall ist? Die Reaktionen der Behörden folgen prompt: Donegal hat heute nachmittag das bunte Stelldichein der Menschenmassen am Meer beendet und alle Strände des Counties geschlossen. Eine weitere drastische Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die Regierung in Dublin wird noch heute Abend erwartet. Eskalationsstufe drei.

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Das neue Feindbild. Menschen, die sich partout nicht an die neue Corona-Etikette halten und rücksichtslos durchziehen, was ihnen einfällt und gefällt, die dabei andere und sich selbst gefährden, haben hier auf der Insel einen neuen Namen. Sie werden Covidiots gerufen. Das funktioniert auch auf deutsch: Cov-Idiot.

Der Prototyp dieser neuen Sub-Spezies unvernünftiger Zeitgenossen ist der breite Blonde von der Nachbarinsel, der sein Land in den Brexit gelogen hat und nun als Regierungschef bis vor wenigen Tagen prahlerisch Hände schüttelte und den unerschrockenen Hirten auf der dilettantischen Suche nach der Herden-Immunität gab. Boris Johnson wurde heute positiv auf Corona getestet. Möchte man wirklich von diesem Mann regiert werden?

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Dann schon lieber Leo. Irland Übergangs-Premier hält sich trotz Abwahl vorerst an der Macht. Leo Varadkar ist selber Arzt und führt das Land nun durch den ersten Teil der Corona-Krise. Geschickt ist er dabei nicht immer. Heute hat er seinen Landsleuten kühl vorgerechnet, dass er mit mindestens 1000 Corona-Toten rechnet. Schon vor zehn Tagen hatte Varadkar die Zahl der festgestellten Infizierten zum Monatsende mal eben mit 15.000 beziffert und musste sich schnell korrigieren. In jenem Fall nach unten.

Leo, wie ihn die Leute hier nennen, lässt auch keinen Zweifel daran, dass Irland einen eklatanten Mangel an Intensiv-Betten und Beatmungsgeräten hat. Genaue Zahlen will man nicht nennen, es sind wohl um die 250 reguläre und noch einmal soviele improvisierte Intensiv-Betten. 500 für 4,8  Millionen Einwohner! Autsch. Damit ist Irland das Land, in dem man als schwer Erkrankter so ziemlich zuletzt in Europa leiden möchte. Denn lebensrettende Hilfe kommt hier im Krisenfall am wenigsten gewiss. Corona-Experten gehen davon aus, dass Irland als erstes Land in der EU an die medizinischen Versorgungs-Grenzen stoßen würde.  Dass die Lage hier noch nicht eskaliert ist, liegt wohl nur daran, dass das Virus hier, auf der fernen Insel, wesentlich später angekommen ist als in Italien oder Spanien. Wir sind etwas hinterher, aber keineswegs besser dran. Muss ich noch erwähnen, dass ich mich liebend gerne irren werde?

 

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Die Farbe des Alarms ist gelb. Vor knapp zwei  Wochen zählte ich die klassischen Medien, die Tageszeitungen und die traditionellen Fernseh-Sender schon voreilig zu den Gewinnern der Corona-Krise. Ich dachte gar nicht an Bild. Das klassische Schreckensmedium aller Feinsinnigen und Differenzierten haut gerade wieder voll rein. Die Internetseiten blenden mich förmlich: ein Meer aus Signal-Gelb. Dabei hat der BVB nicht die Champions League gewonnen. Bild giert wild nach unserer Aufmerksamkeit und schraubt die Bezahlgrenze schamlos nach oben. Während andere Medien jetzt die Bevölkerung eher offensiv und kostenfrei informieren, lässt Bild immer mehr Beiträge hinter der Paywall verschwinden. Dort sind sie gut aufgehoben, lasst sie dort in Frieden ungelesen ruhen.

Doch auch die intelligenteren Medien wie Spiegel oder Süddeutsche wirken angesichts der Ankündigungswucht der Ereignisse und unter dem Diktat der Regierungs-Virologen eher hilflos. Sie kreieren tagtäglich einen breiten Strom der übereinstimmenden öffentlichen Meinung. Gestritten wird nur, ob die Wirtschaft oder das Menschenleben Priorität haben. Grundsätzlich abweichende Positionen und Narrative – und davon gibt es eine ganze Menge – werden derzeit einfach platt gewalzt. Eine andere Meinung außerhalb des tolerierten Spektrums wirkt wie Blasphemie und wird entsprechend geahndet.

Mir fehlt das medizinische und virologische Wissen, um trotz allen Recherchierens das richtige vom falschen Narrativ klar unterscheiden zu können. Es schmerzt mich allerdings zu sehen, wie Minderheits-Positionen von renommierten Fachleuten gerade schonungslos abgebügelt und ausgeblendet werden. Unsere Demokratien müssen sich doch auch in besonders schwierigen Zeiten legitimieren und Meinungsvielfalt fördern und ertragen.  Berlin ist nicht Moskau, oder?

Einen gut recherchierten Beitrag zum Thema Überforderung der Medien habe ich im alternativen schweizer Medium Infosperber gefunden. Lesen lohnt!

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Die Rente ist sicher: Die Versorgung auch – und die Lage im Land sowieso: Die Sicherheit ist sicher, oder? So ganz sicher fühlen sich die Regierenden in Europa derzeit allerdings nicht. Sie lassen schon mal evaluieren, was Corona noch alles lostreten könnte. Einsicht: Wenn der Staat die Eskalation des Sterbens nicht verhindert, scheint fast alles möglich. Dann wird auch die Versorgung leiden – und die öffentliche Sicherheit. Kommt nach der Bananen-Revolution die Revolte im Namen der Weißen Rolle?

Dass frei werdende Räume stets gerne von allzeit Bereiten genutzt werden, lässt sich schon jetzt erkennen, da die Menschen hier in Irland aufgefordert sind, die Straßen und den öffentlichen Raum eher zu meiden. Sogenannte Joy Rider nutzen die leeren Straße vor allem nachts, um allerlei Unsinn anzurichten: Mit Hinterrad-getriebenen PS-starken Autos fahren sie Donuts in den Asphalt, rubbeln einen Satz Reifen in Sekunden platt und halten uns nach Mitternacht mit ihrem Lärmspektakel auf Trab. Andernorts im County haben die motorisierten Rowdies im PS-Rausch ganze Fußballfelder umgepflügt. Wie so oft in Irland: Man weiß, wer da wütet und hält vorsichtshalber den Mund. Sind doch völlig harmlose Jungs – mit viel Zeit und Lagerkoller. Oder etwa nicht?

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Die Tages-Statistik: Die Zahl der identifizierten Covid-19-Fälle stieg in der Republik Irland seit gestern um 302 auf 2121. Das ist der bislang höchste Tagesanstieg. 22 Menschen, die das Coronavirus in sich trugen, sind gestorben (plus 3). 419 Menschen sind bislang wegen Corona im Krankenhaus, 59 auf der Intensivstation.  

 

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Auch das noch: Sollte der Vorrat an Klopapier sich wirklich einmal erschöpfen: Warum machen wir es nicht wie unsere Brüder und Schwestern im nahen und fernen Osten? Anstatt uns in Supermärkten zu prügeln. Die Freunde der Hock-Latrine halten uns eh für Schweineigel, weil wir nur trocken wischen und nicht porentief reinigen. Es ist hohe Zeit für einen Paradigmenwechsel auf dem stillen Örtchen . . .

 

Irland Frühling

Die Lämmer wachsen heran, das Scharbockskraut blüht. Frühling in Irland.

 

Fotos: Antje Wendel. Vignette: Eliane Zimmermann