Irland wählt ein neues Parlament und eine neue Regierung. Am 8. Februar, einem Samstag, werden Irlands Wahlbürger vorzeitig zu den Urnen gebeten. Die Fine Gael-Minderheitsregierung hat keine Mehrheit mehr, die Duldung der Regierung durch die zweite große Mitte-Rechts-Partei des Landes, Fianna Fail, ist aufgekündigt. Die Macht von Premierminister Leo Varadkar ist dahin.

Wo steht das Land heute? Nach fast zwei Legislatur-Perioden unter einer Fine Gael-Regierung stehen die Zeichen auf kurzfristigen Wechsel und langfristigen Wandel. Obwohl die Wirtschaft auf der Insel längst wieder auf Hochtouren läuft, obwohl sich der Wohlstand breiter Kreise mehrt, schiebt die kalt, technokratisch und mechanistisch agierende Regierung einen Berg von gravierenden Problemen vor sich her. Sie beansprucht für sich, die Wirtschaft nach dem katastrophalen Zusammenbruch im Jahr 2008 wieder flott gemacht zu haben, das Land aus dem Finanz-Desaster und der Depression geführt zu haben, das die Fianna-Fail-Vorgänger-Regierung zu verantworten hatte. Und sie schmückt sich mit den Lorbeeren für geschicktes Verhandeln im Konflikt um den Brexit.

Viele andere Herausforderungen allerdings hat die Varadkar-Regierung nicht in den Griff bekommen. Die Menschen auf der Insel sorgen sich vor allem um existentielle Lebensgrundlagen: die Gesundheit und die Wohnung.

 

Das Gesundheits-System ist in einem erbärmlichen Zustand. Die anhaltende Krankenhaus-Krise würde man in einem Entwicklungsland verstehen, nicht aber in einem der reichsten Länder Europas. Mehr Menschen denn je liegen in den irischen Krankenhäusern auf Fluren und Notliegen, weil es nicht genügend Betten gibt. Die Wartezeiten für bestimmte Behandlungen sind beängstigend lang und manchmal lebensbedrohend. Zehn Prozent der Bevölkerung warten derzeit auf einen ambulanten Arzt-Termin. Regionalen Krankenhäusern auf dem Land droht die Herabstufung. Das neue Kinderkrankenhaus in Dublin ist eine geldhungrige Großbaustelle, so etwas wie der neue Berliner Flughafen auf irisch. Das lange schon versprochene faire und gut funktionierende Gesundheitssystem für alle Bürger ist nirgendwo in Sicht.

 

Der Wohnungsmarkt ist völlig aus den Fugen geraten. Es gibt weder genügend verfügbare Häuser, noch genügend Wohnungen. Die Hauspreise sind längst wieder viel zu hoch, die Mieten geradezu dramatisch überteuert. Die Bevölkerung wächst, der Zuzug nach Irland hält an. Gravierende Leerstände und zigtausende AirBnB-Vermietungen enthalten dem lokalen Wohnungsmarkt Häuser und Wohnungen vor. Die auf freistehende Häuser oder maximal dreigeschossige Reihenhäuser fixierte Wohnkultur kennt kaum verdichtetes und damit kostengünstiges Bauen. So fehlt geräumiger und gleichzeitig preiswerter Wohnraum.  Sozialwohnungen wurden in den Zeiten des Celtic Tigers und in den Krisenjahren danach kaum gebaut. 10.000 Menschen, darunter viele Kinder, sind in dem wohlhabenden Inselland offiziell obdachlos.

 

Die Umweltpolitik verdient den Namen nicht. Irland betreibt Raubbau an der Natur und ist bei der Reduktion von CO2-Emissionen das Schlusslicht in Europa. Nur Polen, die große Kohlenschleuder, konnte man noch hinter sich lassen. Immerhin gibt es schöne Klima-Aktions-Pläne, aber in der politischen Wirklichkeit ist von Umsetzung nicht viel zu erkennen. Die noch immer mit Torf geheizten Kraftwerke des Landes (drei an der Zahl) sind die traurigen Symbole des klimapolitischen Versagens.

 

Die Kluft zwischen dem prosperierenden Großraum Dublin und dem ländlichen Irland vertieft sich. Die Menschen in den ländlichen Gebieten fühlen sich zunehmend von der Regierungspolitik im Stich gelassen. Die Infrastruktur auf dem Land erodiert: Zahlreiche Schulen, Postämter, Gesundheitszentren und Polizeistationen wurden in den vergangenen Jahren geschlossen, das Leistungsspektrum der ländlichen Krankenhäuser reduziert.

Kriminalität und öffentliche Sicherheit sind ein großes Thema geworden. Vorbei die Zeiten , da Irland als kriminalitäts-armer Hort der Sicherheit galt. Kein Tag vergeht, an dem die Medien nicht über Mord und Totschlag berichten, über Banden- und Drogenkriege, über Auftragsmorde, Messerstechereien, zerstückelte Leichen, getötete Kinder . . . Mit großer negativer Faszination folgen die Menschen den medialen Beschreibungen, während der Regierungschef behauptet, Irland sei ein sicheres Land. Der Normalbürger mag sich immerhin damit trösten, dass sich die Gangs von Dublin überwiegend selber in Schach halten und deren Mitglieder sich in einem inneren Zirkel gegenseitig umbringen, ohne Unbeteiligte zu behelligen. Doch diese Einsicht führt nicht an der Tatsache vorbei, dass die hedonistische irische Gesellschaft sehr wohl mit den kriminellen Gangs in Verbindung steht. Wo kein Kokain, kein Crystal Meth und kein MDMA konsumiert werden, gibt es auch keine Drogen-Dealer.

 

Hinzu kommen eine anfällige, einseitige Wirtschaft, die stark von den hier ansässigen multinationalen Konzernen geprägt ist, ein maßlos überteuerter Versicherungsmarkt, der viele Unternehmen zur Aufgabe zwingt, und eine irritierende Vernachlässigung der Kultur. Die Kultur-Metropole Dublin verliert zusehends an Künstlern und kultureller Substanz und mutiert zur kalten Finanz- und Tech-Metropole.

 

Was bedeutet das für die Politik? Fine Gael (FG) und Fianna Fail (FF), die beiden großen Mitte-Rechts-Parteien, die sich seit der Unabhängigkeit des Landes die Regierungsarbeit regelmäßig geteilt haben und die ihre Legitimation noch immer aus dem Bürgerkrieg von 1922/23 beziehen, wirken wie aus der Zeit gefallen – wie Parteien, aus dem vergangenen Jahrhundert. Die beiden Parteien banden regelmäßig um die 80 Prozent der Stimmen einer tribalistisch orientierten treuen Wählerschaft an sich und sorgten für Stabilität in der Mitte.

Nach aktuellen Umfragen* kommen FG (23  Prozent) und FF (25 Prozent) derzeit zusammen nicht einmal mehr auf 50 Prozent. Neben ihnen hat sich eine fragmentierte Landschaft von Unabhängigen und Kleinparteien entwickelt. Vor allem aber hat die links orientierte und für die Wiedervereinigung Irlands kämpfende Sinn Fein (SF) stark an Popularität gewonnen und liegt mit 21 Prozent nicht mehr weit hinter den alten Regierungs-Parteien. Eine Frau an der Spitze und Sachkompetenz in wichtigen politischen Fragen machen Sinn Fein mittlerweile für viele jüngere Wähler und Wählerinnen attraktiv, die sich an Politik-Themen orientieren statt an Patronage-durchwirkten Loyalitäten. Und auch die Grünen befinden sich im Aufwind, rechnen im Sog der Klimakrise mit ihrem Wieder-Erstarken und mit mehr als acht Prozent der Stimmen.

Die großen Impulse für den gesellschaftlichen und politischen Wandel Irlands kommen seit längerer Zeit schon aus der Gesellschaft und nicht mehr von den politischen Parteien. Die Ausweitung liberaler Bürgerrechte (Ehe für Alle, Reform des Scheidungs- und des Abtreibungsrechts) in den vergangenen Jahren war von den Menschen getrieben und wirkte wie eine Gegenbewegung zum Rechtsruck in weiten Teilen Europas. Populismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus sind hier in Irland in Ansätzen zwar ebenfalls erkennbar, zeigen immer mal wieder ihre hässliche Fratze, gewinnen aber keinen bedeutenden Einfluss. Das politische System der Republik Irland, so scheint es, wandelt sich in diesen Jahren grundlegend, eher unspektakulär und langfristig.

Bei den Wahlen am 8. Februar deutet sich zumindest ein Regierungswechsel an. Eine neue Regierung zu bilden, könnte allerdings schwierig werden. Denn die beiden (noch) großen Parteien tun sich schwer mit einer Koalition, die es noch nie gegeben hat; und beide lehnen eine Koalition mit Sinn Fein ab – weil diese in der Vergangenheit eng mit der IRA verbunden war, und wie manche Politiker im Establishment meinen: immer noch ist. Was die Grünen als kleiner Partner in einer Regierung ausrichten könnten, bleibt abzuwarten. Schon einmal wurden sie in der Regierungsverantwortung (2007 – 2011) geradezu pulverisiert. Vom großen Partner Fianna Fail zerrieben versanken sie acht Jahre in der Bedeutungslosigkeit. Unabhängigen Abgeordneten wird wieder einige Bedeutung zukommen, während die Labour Party wohl im Tief um die fünf Prozent stecken bleiben wird.

In zwei Wochen wissen wir mehr.

Irland Wahlen 2020

 

*  IPSOS MRBI/Irish Times vom 23. Januar 2020