Der Wanderer lebt dort, wo “die Welt” – wie man leichtfertig sagt – ” noch in Ordnung ist”. Hier am westlichen Rand Europas steht die Trias aus Lehrer, Pfarrer und Doktor weiterhin hoch im Kurs, ihre Autorität bleibt nahezu unbestritten. Hier leben die Menschen weitgehend frei von Zweifeln, behütet von Glauben und Aberglauben. Hier spenden Müttergottes, die aus Baumstümpfen erscheinen, genauso Trost wie muschelverzehrende Naturgötter oder allwissende Doctores. Die Antwort auf die Frage, ob diese Welt wirklich in Ordnung ist, liegt im Auge des Betrachters. Reden wir davon unbeeindruckt über die Macht des Glaubens an die Fähigkeiten des menschlichen Heil-Personals.
Gestern nacht standen wir am Sarg des Heilpraktikers. Er hatte nach schwerer Krankheit seinen Frieden gefunden. Nach 67 Jahren Leben hatte der Mann – er stammte aus einer deutschen Familie, die zu Kaisers Zeiten nach Holland ins Exil ging – sich selber nicht mehr helfen können. Der Heilpraktiker war erst vor drei Jahren in die Gegend gezogen – zum Sterben, wie sich bald herausstellen sollte. Das hatte ihn nicht gehindert, bis zuletzt akribisch und fleißig zu arbeiten und sich im südwestlichen Irland in kurzer Zeit einen Ruf wie Donnerhall zu erwerben.
Der Heilpraktiker heilte Viele und Vieles. Er konnte nach eigener Auskunft sogar mehr – nämlich alles heilen. Vom Krebs über Paukenergüsse und chronische Bronchitis bis hin zu AIDS – der Meister mischte das Antidot. Seine Spezialität als Homöopath waren alle Varianten der bakteriellen Brucellosis-Erkrankung. Die Leute nannten ihn bald “The Doctor” und raunten bewundernd von den magischen Fähigkeiten des Heilers. Ebenso bald wurden zahlreiche Menschen der Gegend mit Brucellosis diagnostiziert und behandelt. Sein “Other Gate” wurde zur Zuflucht für die vielen Hoffnungslosen, die Aufgegebenen, die im biblischen Sinne Blinden und Lahmen.
Das wundervolle Vertrauen vieler Menschen in West Cork kennt kaum Grenzen. Am Sarg erfuhren wir gestern nacht von einer fünffachen Mutter, was das Vermächtnis des “Doktors” sein würde. Er würde ihrem Gatten die Haare zurückgeben. Der Ehemann hatte frühzeitig seine gesamten Kopfhaare verloren und trägt seit einigen Jahren widerwillig “Platte”. In einigen Monaten schon soll sich das Andenken an den Heilpraktiker im wallenden Haarschopf des irischen Farmers materialisieren. Farewell, Doctor!
Der Abschied vom “Doctor” erinnerte an den Abschied von einem anderen Heiler in der Nachbarschaft: dem “Bone Doctor”. Der deutsche Heilpraktiker starb in den 90er Jahren in der neuen Heimat an Krebs, noch heute sprechen die Menschen im Dorf bewundernd von ihm. Der “Bone Doctor” hatte Deutschland bei Nacht und Nebel in Richtung “Jerusalem” verlassen, um sich in Irland eine neue Existenz aufzubauen und den leidenden Bauern und Bauarbeitern mit Wunderhänden den Rücken einzurenken. Er erntete dafür Lohn, Anerkennung, lokalen Ruhm und ein Stück Unsterblichkeit. Der “Rückendoktor” – er war eigentlich im Filmgeschäft tätig – starb jung und unvollendet. Auch er konnte sich selber am wenigsten helfen. Doch die Legende lebt. Der Heilpraktiker, der die keuschen Landfrauen gerne bat, ihre Oberbekleidung zur Behandlung abzulegen, lebt im kollektiven Gedächtnis des Ortes als “Doctor Strip” weiter.