Irlands verblasste Ikonen:  Im Jahr 1981 fuhr ich per Anhalter durch Irland, das damals katholischste Land in Europa. Zehn Kilometer vor Clifden, Connemara, verließ mich eines Nachmittags das Tramper-Glück.

Ich hatte stundenlang an der kleinen Landstraße südlich von Clifden gewartet, als ein Wanderer im schwarzen Kittel die Straße hoch kam. Der alte Priester bot mir an, ihn zu begleiten. Er wisse eine Abkürzung querfeldein. In jenen Tagen war das Land im Westen nicht mit Zäunen und Toren verbarrikadiert und die katholischen Pfarrer genossen an der Oberfläche noch einen tadellosen Ruf.

Ich schloß mich dem Pfarrer an. Zweifel kamen mir, als wir nach geraumer Zeit im moorigen Gelände immer tiefer einsanken und die Füße schon triefend nass waren. Ich trottete etwas mißmutig und leicht verunsichert hinter dem Gottesmann her, was der wohl spürte. Er drehte sich nämlich unvermittelt um und sprach: “Don´t worry boy. God is always by my side.”   Eine Stunde später kamen wir wohlbehalten in Clifden an. Würde man heute einem jungen Mann empfehlen, sich einem katholischen Priester anzuvertrauen? Vielleicht. Auch nicht.

 

Irland Reiseführer

Titel-Illustration des Reiseführer Irlands von Franz Rappel im Verlag Martin Velbinger

 

Im Jahr 1988 erschien der heute legendäre Reiseführer Irland von Franz Rappel im Verlag Martin Elbinger. Dort konnte man nachlesen, dass Irland zu den “durchschittlichen Tramp-Ländern” gehöre:

. . . die Zeiten, wo fast jedes Auto anhielt, sind leider vorbei, seit der Touristenstrom immer mehr anschwillt. Die Wartezeiten am Straßenrand dürften den unsrigen in Deutschland entsprechen.

Wo Rappel recht hatte, hatte er recht. Der 400-Seiten-Reiseführer empfahl sich damals aufgrund seines “hohen Gebrauchswerts” und kam komplett ohne Fotos aus. Alle Illustrationen waren gezeichnet. Das wirkt heute, im Zeitalter des Foto-Overkills ungemein beruhigend. Auf Seite 5 radelt ein lächelnder Priester mit Heiligenschein überm Hut und Schaf auf dem Gepäckträger durch eine Pfütze (Foto oben). Auf dem Titelbild finden fünf Ikonen des alten Irlands zusammen: Die Folk-Musiker, die Schafe, der Wirt, der Alkohol – und eben der Pfarrer, der sich lesend mit Gebetsbuch ein Pint genehmigt (allerdings kein Porter, sondern ein Lager). Den aktualisierten Reiseführer aus dem Velbinger-Verlag gibt es übrigens auch heute noch zu kaufen – mit dem Original-Titelbild.

The Commitments

 

Im Jahr 1991 machte der Kinofilm The Commitments von Alan Parker Furore. Roddy Doyle´s grandiose Story einer irischen Soulband aus Dublins Arbeiter-Milieu auf der Suche nach dem großen Erfolg zeichnet den jungen Gemeindepfarrer als einen sympathischen modernen Hirten. Steven gesteht bei der Beichte seine Sünde: Er hat “When a Man Loves a Woman” von Marvin Gaye gesummt. Der Pfarrer korrigiert den jungen Musiker: “Percy Sledge, der Song ist von Percy Sledge.” Die wahre Sünde war, seine Soul-Sänger nicht zu kennen. Später tanzt der Priester Soul singend mit einem Besen. In Österreich sang der Chansonnier André Heller schon 18 Jahre früher, im Jahr 1973: “Und wenn ein Mann einen Mann liebt.”

Im Jahr 2014 schockierte der irische Kinofilm Calvary. Am Sonntag bist Du tot. Die Rache eines sexuell Missbrauchten. Der Pfarrer stirbt am Sonntag. Stellvertretend, für die Verbrechen seiner Brüder und Schwestern.

Zahlreiche Missbrauchs-Skandale und viele schmerzhafte Enthüllungen später, im Jahr 2018, kommt der Papst zum Besuch nach Irland. Ein schwerer Gang. Seine Kirche hat hier fast alles verloren, was sie einmal stark gemacht hatte: die kulturelle und die spirituelle Stellung, die Mehrheit der Gläubigen, die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen. Das Priester-Seminar ist leer. Der irische Pfarrer – eine verblasste Ikone des alten Irland.