Irland im Wandel. In diesem Herbst wanderten wir auf der Isle of Skye. Die größte Insel der Inneren Hebriden in Schottland lockt mit ihren märchenhaften Landschaften und ihrem ewig wechselnden, intensiven Licht. Sie lockte nicht nur uns. Was vor 20 Jahren noch ein eher einsames Eiland am Rand des schottischen Hochlands war, hat sich in wenigen Jahren zu einem touristischen Hotspot gewandelt. Selbst in der Nachsaison sind die Hotels (die B&Bs und die Airbnbs) auf Skye inzwischen ausgebucht. Es kann Ende September passieren, dass man in einem der Restaurants in Portree drei Tage auf einen Tisch warten muss. Dass man spontan keine Unterkunft findet. Dass man an einem der sehenswerten Wasserfälle einfach keinen Parkplatz bekommt.
Als gefragte Filmkulisse hat Skye in den vergangenen Jahrzehnten Karriere gemacht und Berühmtheit erlangt. Gedreht wurden hier unter anderem Steven Spielbergs BFG, Stardust, Macbeth, Highlander, King Arthur oder Transformers. Nun strömen die internationalen Besuchermassen. Und es kommt dicker: Ab November läuft auf Netflix der auf Skye gedrehte Outlaw King, eine Großproduktion, die den Druck auf die Insel noch drastisch erhöhen dürfte. Schon jetzt ist es vielerorts eng: Die bescheidenen Parkplätze sind nicht groß genug. Abgefahrene und aufgewühlte Straßenränder zeugen kilometerweit von der Überlastung. Die einzige öffentliche Toilette im Zentralort Portree kann den Besucherdruck nicht annähernd ausgleichen – schon gar nicht, wenn eines der zahlreichen Kreuzfahrtschiffe im Hafen anlegt und bis zu 2000 Menschen das Städtchen stürmen. Die überwiegend einspurigen Sträßchen mit Ausweichbuchten halten dem Verkehr nicht Stand.
Der Boom sorgt unter den Einheimischen für Diskussionen, teilt die Bevölkerung in Profiteure und Leidende. Immer deutlicher wird die Frage gestellt: Wer genau gewinnt mit der Geldmaschine Skye, und wer kriegt nur die Nachteile ab? Ja, Tourismus schafft Arbeitsplätze für alle, ist ein viel bemühtes Argument. Doch Schotten sind im Service auf Skye kaum noch zu finden. Junge Menschen aus Osteuropa arbeiten an der Gästefront und stehen in der Pflicht. Woher noch mehr Personal nehmen? Es ist kaum zu finden – und auswärtiges Personal auf der Insel unterzubringen, wird zunehmend schwer: Was vier Wände hat und eine Decke, wird heute an Gäste vermietet. Airbnb hinterlässt auch auf Skye seine wüsten Spuren.
Wer weit hinein und hinauf in die schroffen Gebirge von Skye geht, findet sie noch, die große Ruhe. Entlang der ausgewiesenen Sehenswürdigkeiten und landschaftlichen Attraktionen ist man immer in munterer Gesellschaft. Ein unablässiger Pilgerstrom zieht Tag für Tag zum Old Man of Storr oder zu den Fairy Pools. Skye erfreut sich einer internationalen Besucherschaft. Nun drängen die ersten Hotelketten auf die Insel und versprechen noch mehr Besucher, noch mehr Geschäft, noch mehr Profit. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erkennen, dass die Isle of Skye vor einem enormen „Entwicklungs“- und Anpassungsschub steht.
Skye ist keine Ausnahme. Schottland boomt. Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass man einmal 50 Kilometer im zähen Schrittverkehr durch die schottischen Highlands tuckern würde? Wer erträgt noch den erbarmungslosen Nessie-Rummel am Loch Ness, diesem tristen Steifen-Gewässer, das seinem Abbild in unserer Phantasie niemals das Wasser reichen kann?
Und was hat das alles mit unserer Wahlheimat Irland zu tun? Gut 800 Kilometer südlich von Skye, hier im Südwesten Irlands, ist die Tourismus-Saison gerade zu Ende gegangen. Auch hier steigt die Zahl der Gäste beständig. Jahr um Jahr nimmt der Verkehr zu, füllen sich die Straßen mehr mit Autos, Wohnmobilen, Trucks und Motorrädern. Meine Annahme, dass das regenreiche Wetter den nordatlantischen Teil Europas, Schottland genauso wie Irland, vor dem Massentourismus á la MIttelmeer schützen und bewahren würde, könnte sich als falsch heraus stellen. Schon in diesem Jahr wird die Insel Irland von mehr als zehn Millionen Menschen bereist – und Asien hat unsere grüne Perle im Atlantik gerade erst entdeckt. Die Tourismus-Vermarkter des Landes allerdings haben den Dreh jetzt richtig raus. Sie setzen geradlinig und ohne Zaudern auf quantitatives Wachstum, feiern freudig zweistellige jährliche Wachstumsraten und machen steile Pläne*. Entstehen sollen kurzfristig:
- 6800 neue Hotelbetten bis 2020, 11.000 neue Betten insgesamt in fünf Jahren.
- 40 Prozent zusätzliche Flug- und Fährkapzität.
- 100 neue Restaurants auf der Insel.
- 54 Prozent mehr Gäste bis 2025 (Basisjahr 2017, Steigerung auf 14 Millionen Besucher pro Jahr)
- 65 Prozent mehr Tourismus Umsatz (dann 8,1 Milliarden Euro)
- 80.000 neue Jobs im Tourismus (dann 310.000).
Für die Tourismus-Manager auf der Insel gibt es gerade nur eine Richtung: Aufwärts. Allenfalls der Himmel ist die Grenze. So müssen die langsam aussterbenden Freunde des alten gemütlichen und ruhevollen Irlands mit ansehen, wie sich auch auf der grünen Insel die Dinge ändern, wie nichts bleibt, wie es einmal war. Denn Irland hat sich schnurstracks auf den Weg in den Massentourismus gemacht – Europa, Amerika sind kräftig wachsende Kernmärkte, und der Riesenmarkt China wird gerade frisch angezapft. Der smaragdgrüne Traum lässt sich auch in Asien bestens verkaufen.
Auch die Landschaft wird dem Wachstums-Diktat unterworfen. Die Straßen und Sträßchen an den Sehnsuchts-Küsten werden fleißig ausgebaut. Selbst Bergpassagen wie der Healy-Pass werden künftig von Wohnmobil-Kolonnen und großen Bussen befahrbar sein. Die Healy Pass-Straße wurde auf Cork-Seite gerade auf maximale Weite ausgewalzt. Damit steigen Durchfluss-Kapazität und Sicherheit. Verloren gehen Charme und Einzigartigkeit.
Wenn ich heute über den Healy Pass fahre, habe ich das moralische Dilemma immer im Gepäck: Wer gibt uns das Recht zu glauben, diese magische Landschaft sei nur für wenige Menschen gemacht, für uns und die klassischen Irland-Fahrer, die das Privileg für sich beanspruchen, eine einsame, weite und unberührte Landschaft intim zu erleben? Was wir für uns beanspruchen, müssen wir anderen genauso zugestehen.
Der Trost: Abseits der geführten wilden atlantischen Rennstrecke, abseits der beliebten Aussichtpunkte und der rostigen Galgen, abseits der Ringe von Kerry und Dingle ist das ländliche Irland auch heute noch vielerorts still, natürlich und verträumt. Ein paar hundert Meter machen oft den Unterschied – und es gibt den ruhigen Herbst und den völlig ruhigen irischen Winter.
Ich bin froh, dass ich die Isle of Skye in diesem Herbst noch so gesehen habe, wie es einmal war. Wer Irland noch so sehen will, wie es einmal war, sollte wohl nicht allzu lange warten.
Wir von Wanderlust sind Teil der irischen Tourismus-Branche. Wir haben unsere eigenen Vorstellungen von einem kleinteiligen verantwortungsvollen Tourismus, die im gegenwärtigen Wachstums-Klima nicht mehrheitsfähig sind. Wir sagen nein zu permanentem Wachstum und ja zur Selbstbeschränkung und zur Verantwortung für den Ort, an dem wir leben. Weil es für die Beteiligten materiell reicht, haben wir unser Programm zur vergangenen Saison aus Überzeugung um ein Drittel verkleinert. Wir wollen das Angebot, das wir unseren Gästen machen, besonders gut gestalten – aber nicht besonders oft und alleine zur Mehrung materieller Gewinne. Wie wir unsere Rolle und unsere Verantwortung begreifen, kannst Du hier nachlesen.
* Quelle: ITIC; Fotos: Eliane Zimmermann (2), Markus Baeuchle
Ist genießen Verantwortungslos? Dann bin ich gern Italiener (zumindest im Geiste).
„Undifferenziertes Wachstum“ unterstellt, dass es keine Bemühungen und Überlegungen zur Güterabwägung aller Verantwortlichen gibt. Das halte ich für falsch.
Aus meiner Sicht wäre es anmaßend, wenn ich behaupten würde, dass meine Lebensqualität sich nicht permanent verbessert hätte.
Es ist sehr viel durch engagierte Menschen erreicht worden. Dieser Einsatz ist notwendig und sinnvoll. Alles erreichte immer als unzureichend darzustellen, wird die Menschen nur enttäuschen und zu mehr Egoismus in der Gesellschaft führen. Leider ist das ein weltweiter Trend.
Ich bin (Teil-) Italiener. Genießen, wie Du es beschreibt, weil du es so stringent mit Wohlstand verknüpfst, ist heute verantwortungslos, ja.
Sollen wir Dir jetzt applaudieren, weil sich Deine Lebensqualität permanent verbessert hat – oder hast Du Dich einfach vertippt?
Was ist denn Dein Ansatz? Alles schönreden?
Wir haben so viel erreicht. Wir müssen einfach ein wenig zurückstecken.
Mir muss keiner applaudieren. Und ich habe mich nicht vertippt. Den Hinweis auf eine sich verschlechternde Lebensqualität empfinde ich als subjektiv falsch. Nur das wollte ich damit zum Ausdruck bringen. Ich halte es für verantwortungslos alles schlechtzureden. Mir zu unterstellen, alles schönreden zu wollen, kann man machen, trifft mich aber nicht, da ich davon weit entfernt bin.
…ach meine Trauminsel Skye… Vor sechs Jahren starteten wir, nach einsamer Fahrt um den Quirang, von einem kleinen Wanderparkplatz, nur wenige Fahrzeuge neben uns, eine unvergeßliche Wanderung durch moosbewachsene Fichtenwälder zum nebelumwobenen Old Man. Anfang Juni dieses Jahres wurde die Erinnerung an eine längst verlorene Zeit mehr als getrübt: statt des mittlerweile komplett geroden Bergwaldes stehen so weit das Auge reicht traurige Stümpfe, an Stelle des kleinen Wanderparkplatzes findet sich nun ein überfüllter Großparkplatz, und selbst die umgebenden Straßenränder sind dicht mit Fahrzeugen zugestellt. Auf die eigentlich geplante Abendwanderung verzichteten wir ohne auch nur einen Moment ans Anhalten zu denken dankend. Am anderen Tag gestaltete sich unsere Wanderung zu den Fairy Pools nur deswegen nicht zum Pilgermarsch, weil der kleine Bach gleich zu Beginn des Weges dank vorangegangener Regengüsse zu einem nur mir reichlich Mut oder nassen Beinen zu überquerenden Wildbach angeschwollen war (dem sogar unser Labrador reichlich Respekt zollte ;-) Der einstige Zauber der Insel ist nicht mehr zu spüren, die Schäden durch die massiv gestiegene Zahl schwerer Fahrzeuge sind unübersehbar, und auch die allgegenwärtigen Rodungen tragen nicht gerade zur Attraktivität der Region bei. Unsere Entscheidung steht jedenfalls fest: wir werden in Zukunft die Besucherzahl meiner ehemaligen Trauminsel um zwei + Hund senken… Werden wir die einzigen bleiben?
Hallo,
ich finde Deine Überlegungen sehr lobenswert.
Aber…
Wir wollen unseren Wohlstand genießen und dazu gehört Reisen. Mit welchem Recht können wir dies anderen verwehren? Der Wohlstand steigt, die Menschheit wächst und jeder möchte auf Reisen gehen und „noch einmal sehen wie es war“.
Venedig habe ich noch nicht bereist, 2 meiner Kinder während einer Klassenfahrt schon.
Wir müssen uns damit abfinden, das jeder Mensch das Recht auf Wohlstand und Freizügigkeit für sich in Anspruch nehmen kann und daraus zwangsläufig dies Entwicklung entsteht.
Der Tourismus ist als Folge des stetig steigenden Wohlstandes permanent gewachsen. Das ist nicht aufzuhalten und dies kann als solches auch kein erstrebenswertes Ziel sein.
Eine romantische Vorstellung der Abkehr vom quantitativen Wachstum bedient nur ein elitäres Klientel, welches meint ihm steht etwas zu was andern zu verwehren ist.
p.s.
Die Personal-Problematik in der Tourismusbranche habe ich nie anders erlebt.
Fällt Dir nichts anderes ein, als dass Du Deinen Wohlstand genießen willst? Wo fängt Deine eigene Verantwortung an?
Herkömmliche Wirtschaftsmodelle definieren „Wohlstand“ über das Bruttoinlandsprodukt: den kumulierten Gesamtwert aller an den Markt gebrachten Waren und Dienstleistungen. Und hier liegt schon das Problem: diesen Wohlstand kann man nicht „genießen“, bestenfalls konsumieren. Ob das Konsumieren auf Dauer glücklich macht, möge jeder für sich entscheiden. Unübersehbar jedenfalls ist, daß undifferenziertes Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (des Wohlstandes also…) zunehmend unsere natürlichen Lebensgrundlagen beansprucht, mehr und mehr sogar unwiederbringlich zerstört. Die in alten Zeiten noch gerechtfertigte Annahme, das zunehmender Wohlstand auch die Lebensqualität verbessere, trifft schon lange nicht mehr zu – ganz im Gegenteil trägt undifferenziertes Wachstum entscheidend dazu bei, daß unsere Lebensqualität in den letzten Jahren immer deutlicher gesunken ist.
Ist es wirklich „romantisch“, darauf hinzuweisen, daß wir nur dann ein Chance haben, unserer Nachwelt eine lebenswerte Erde zu hinterlassen, wenn wir den Wachstumswahn als Irrweg erkennen und uns stattdessen unserer natürlichen Umwelt besinnen? Nicht um sie „noch mal gesehen zu haben“, sondern um sie in unser Herz zu schließen, damit wir unsere eigenen Lebensgrundlagen bewahren können.