Wie weiter? Krisen, Sorgen, Krieg und Not. Unbehagen überall. Weltuntergangs-Stimmung mancherorts. Viele Mitmenschen gereizt, aufgewühlt, aggressiv, wütend, andere niedergeschlagen, perspektivlos, depressiv. Außer sich. Erschöpfte Gehirne wollen Ruhe und Frieden. Und das Karussell dreht sich weiter. Immer schneller. Wie weiter? Einige Vorschläge für das neue Kapitel 2023 in unserem Leben.
„But you know I think, the more you think the less you understand.
And the more I try to get things right the less they go as planned.“
Mick Flannery, irischer Lieblingsmusiker (im Song „In the Gutter“)
Aufgeben?
„Die Menschen sind schlecht, und die Welt ist am Arsch, aber alles wird gut.
Das System ist defekt, die Gesellschaft versagt, aber alles wird gut.
Dein Leben liegt in Scherben und das Haus steht in Flammen, aber alles wird gut.
Fühlt sich nicht danach an, aber alles wird gut“.
Kummer, in: Der letzte Song (Alles wird gut)
„Wer den Himmel auf Erden will, erfährt die vorhandene Wirklichkeit zwangsläufig als Hölle auf Erden und übersieht,
was sie wirklich ist: Erde auf Erden. Es kommt darauf an, die Erde auf Erden zu akzeptieren“
Odo Marquard , Philosoph (1928 – 2015)
Gelassenheit
Wir Menschen sollten uns Menschen nur so ernst nehmen, wie wir es verdienen, riet Odo Marquard, der Philosoph der entspannten Gelassenheit („Lesen und lesen lassen“). Marquard warnt uns vor Absolutheits-Ansprüchen, vor großen utopischen Entwürfen und vor dem Hang zum Prinzipiellen. Schon vor zwei Jahrzehnten bezeichnete sich Odo Marquard angesichts der herauf ziehenden Großkrisen als „Weigerungsverweigerer“ und sagte:
„Die Vorstellung, jetzt ist der absolute Augenblick, in dem die Menschheit gerettet werden muss, und die Zuspitzung der Gegenwart zur großen Entscheidungsgrenzsituation zwischen Allem und Nichts: Das geht mir viel zu weit. Ich bin gegen den großen Außerordentlichkeitsbedarf“.
Auch wenn wir heute vielleicht am Abgrund stehen und morgen einen Schritt weiter sein werden: Hinter dem Abgrund erstreckt sich ein weites Feld. „Lebbe geht weiter“, wie ein weiser Frankfurter Fußballphilosoph einmal sagte. Die Erde dreht sich weiter. Die Menschen werden sich arrangieren in der Zeit zwischen den Stürmen, an den Orten zwischen unbewohnbaren Klimazonen. Auch wenn das Licht ausgeht, wird die Sonne jeden Morgen wieder aufgehen, wird es eine nächste Generation geben. Richten wir uns ein. Passen wir uns an. Das mit dem „Es muss uns – und vor allem unseren Kindern – immer ein Stück besser gehen“, ist nur lebensbehinderndes Kopfkino. Bemühen wir uns, dass es uns gut geht.
Wünschen
„Als das Wünschen noch geholfen hat“, ein Buch von Peter Handke, stammt aus einer Zeit, die beschwingt war und voller Hoffnung – 1974, ein helles Jahr, trotz Ölkrisenschock, Terrorismus und dem Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler. Alles schien möglich, die Welt offen, das Leben leicht. Ob das Wünschen damals geholfen hat, ist nicht belegt. Zumindest wurde Deutschland Weltmeister. Ich erinnere mich in diesen bleischweren 2020er-Jahren gerne aktiv an jene Zeit und an ihre Energie. Es ist tatsächlich mehr als Erinnern. Die Energie ist noch immer in mir, ein vitaler, oft abrufbarer Lebensquell, meine immaterielle Red Pill. Eine Batterie für das erschöpfte Gehirn. Darum wünsche ich mir heute unverdrossen für das neue Jahr:
Dass wir wieder miteinander reden, mit Verständnis statt mit Wut.
Dass wir einander wieder zuhören.
Dass wir den Zweifel wieder zulassen.
Dass wir uns Zeit nehmen für die wichtigen Dinge und uns nicht die Zeit nehmen lassen.
Dass wir besser darin werden, unsere Egos in frage zu stellen.
Dass wir wieder an etwas glauben können und in all dem Profanen das Sakrale erkennen.
* * *
„There is nothing either good or bad, but thinking makes it so“
(„An sich ist nichts weder gut noch schlecht; das Denken macht es erst dazu“)
Shakespeare in Hamlet; zitiert von Eckart Tolle.
Aufwachen
Der Markt für Seelenheil ist eine Milliardenindustrie. Auf dem Weg zur Erleuchtung können wir uns finanziell wie energetisch voll verausgaben – ohne jemals anzukommen. Es gibt auch einen anderen Weg. Eckart Tolle, weiser Mann im braunen Pullunder, der sich selbst als „Hebamme für die Geburt eines neues Bewusstseins“ bezeichnet, weist in einfachen Worten und Übungen die Wege aus unserer Kopfkino-Krise. Seine kostenlosen Videos im Internet zeigen: Es ist nicht so schwer, aus dem eigenen Drama auszusteigen, das ständige Urteilen und Beurteilen bleiben zu lassen und einen anderen Bewusstseinszustand zu erlangen, der es ermöglicht, konfliktfrei und innerlich friedlich im gegenwärtigen Moment, im Jetzt, zu leben.
Wahrhaftigkeit
Für Irlandnews habe ich im vergangenen Jahr viele, viele Zeilen geschrieben. Die mir wichtigsten, veröffentlicht vier Tage nach Kriegsausbruch am 28. Februar 2022, möchte ich noch einmal zitieren und deren Essenz mit ins neue Jahr nehmen:
„Wir sehen uns mental zurück katapultiert in die Zeit der 30-er und 40-er Jahre. Am Ende des Redens sind wir konfrontiert mit dem Schrecken roher physischer Gewalt. Panzer in europäischen Innenstädten, Raketeneinschläge nicht weit von unserer Haustür. Wir, die wir nie selber einen Krieg erlebt haben, sind im Mark erschüttert.
Die vagabundierende Angst ergreift einen neuen Anker: Keine Rede mehr vom Virus, Corona scheint gebannt – jedenfalls aus dem Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit. Nun treibt uns Putins Brutalität um, nun haben wir Angst vor einem großen Krieg in Europa. Von zwei Jahren Ausnahmezustand und Unfreiheit zermürbt hoffen die Menschen inständig, dass dieser reale Alptraum schnell zu Ende gehen würde. Es bleibt wohl ein frommer Wunsch.
Von einer Zeitenwende ist die Rede, und tatsächlich sieht es so aus, dass Jahrzehnte der Verblendung zu Ende gehen und eine Zeit der Klarheit, auch der bitteren Klarheit und Wahrheit begonnen hat. Wie naiv wir doch gelebt haben, wie kompromittiert und unwahrhaftig, wie inkonsequent, maßlos und hedonistisch.
Das alles mag nun ein Ende haben, wenn die Mittel knapper werden und sich die Werte neu sortieren; wenn unser moralischer Kompass wieder lebenswichtig wird, und wir nun rückblickend verstehen, dass wir zum Beispiel Menschen auf der Flucht nicht achselzuckend im Mittelmeer ertrinken lassen dürfen, nur um unser kleines komfortables Leben nicht in Frage stellen zu müssen. Morgen schon könnten wir es sein, die um Hilfe bitten müssen.
Das alles mag ein Ende haben, wenn wir verstehen, dass die Doppelmoral der Oligarchen nur durch unsere eigene Doppelmoral möglich geworden ist; wenn wir begreifen, dass die alle Werte zersetzenden Oligarchen nicht nur in Moskau und Londongrad leben, sondern dass wir sie auch im Silicon Valley und an der Wall Street finden müssen.
Wir beginnen gerade neu zu verstehen, dass der Firnis der Zivilisation fadenscheinig dünn ist, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt, dass Handel nicht wandelt, dass Freiheit mehr ist als die Freiheit zu konsumieren und dass Sicherheit wenig zu tun hat mit dem Kauf einer Police und mit unserer Vollkasko-Mentalität. Wir beginnen neu zu lernen, dass Freiheit und Sicherheit einen Preis haben und dass sie konsequent erkämpft und dann verteidigt werden müssen. Diese Arbeit beginnt in unserem eigenen Alltag. Nur wenn wir alle uns finden, wird sich Europa finden.
Zu viel Freiheit und Chancengleichheit haben auch wir in West-Europa in den vergangenen Jahrzehnten unserer eigenen Bequemlichkeit geopfert, zu viel Freiheit und demokratische Kultur haben wir alleine in den vergangenen zwei Jahren leichtfertig preisgegeben. Es ist deshalb falsch zu glauben, dass wir die Verteidigung unserer obersten Werte alleine an Regierungen und Militärs delegieren können. Wir alle stehen jetzt in der Pflicht, verantwortungsvoll, solidarisch und wahrhaftig zu leben und zu handeln.“ (aus: Krieg: Es ist alles anders. Wir alle stehen in der Pflicht)
Was wünschen Sie sich und Du Dir und uns? Die Kommentarspalte ist geöffnet.
Allen Leserinnen und Lesern von Irlandnews ein erfahrungsreiches und gelassenes Jahr 2023.
Markus Bäuchle und das Team von Irlandnews
Zum Jahreswechsel ein großer Dank an alle, die Irlandnews seit der Einführung der Spendenseite im vergangenen August finanziell unterstützt haben. Auf Irlandnews gibt es keine Paywall. Alle aktuellen und insgesamt 3700 Beiträge aus und über Irland stehen Ihnen hier kostenlos zur Verfügung. Sie können unsere Arbeit wert schätzen, unterstützen und mit einer Spende zur Kostendeckung beitragen. Wir würden uns darüber sehr freuen. Hier geht es zum Spendenformular.
Fotos: Markus Bäuchle © 2022. Freiheitskämpfer und Temperenzler: Die Helden Corks mit saisonalem Kopfschmuck
Euch wünsche ich Frieden und dass es eine Möglichkeit gibt, dass Ralf Sotschek doch wieder weiter schreibt und Gräben überwunden werden.
Mir wünsche ich mehr Verständnis für neurodiverse Menschen – Frauen mit ADHS sind in den Medien unterrepräsentiert und haben es aber besonders schwer in Deutschland (in Irland nicht ganz so, dünkt es mir) . Ich wünsche mir mehr Ruhe, mehr Wärme, mehr Menschlichkeit hier. Ich wünsche uns allen in Deutschland und Irland mehr Gesundheut, in letzter Zeit geht ja ständig was rum (ich vermute Kerry ist anders aber auch aus Co. Leitrim und Sligo hör ich das). Ich war in der Zeit vom 18.9. -29.12.2022 nur genau 30 Tage mittendrin gesund.
Ich wünsche mir mehr Energie und mehr Fokus um endlich all das zu schaffen das ich gerne schaffen möchte und all das was ich schaffen muss für ein reibungsloses Leben.
Ich wünsche mir mehr Unterstützung – leider setzt Deutschland noch immer nicht alles um, was die EU in Bezug auf Menschenrechtskonvention und Rechte von behinderten Menschen an Gesetzen verabschiedet hat und darunter zu leiden haben Menschen wie ich mit GdB60 oder höher die es aus eigener Kraft nicht schaffen. Und gerade bei im Vergleich zu Rollstuhlfahrern „unsichtbaren“ Behinderungen werden Betroffene – vor allem Frauen – ja nach wie vor mit neurotypischen Maßstäben „beurteilt“ und fühlen sich ihr Leben lang unzulänglich.
Wenn ich mir dagegen die Camphill Communities in Irland ansehe weiß ich, daß Irland was das betrifft, signifikant weiter ist und mentale Gesundheit wichtiger zu sein scheint.
Menschlichkeit und (wieder) mehr soziale Verbundenheit, gegenseitige Wertschätzung – das wünsche ich mir und uns an vorderster Stelle für das Jahr 2023.
Empathie, Rücksicht, Achtsamkeit, Toleranz und Respekt gegenüber Anderen. Sich gegenseitig zu helfen und Kraft zu geben.
Ich habe diese Werte heute am Neujahrstag in der Ukraine-Flüchtlingshilfe erlebt, als sich die Geflüchteten mit kleinen Gesten in Form von Worten und selbst-gemachten, traditionellen Speisen für die Hilfe in 2022 bedankt haben. Die Helfenden und Unterstützer werden umsorgt…
Das war große Anerkennung, hat Mut gemacht, die Werte der (Zwischen-)Menschlichkeit aufrecht zu erhalten, Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln.
Aufgeben in Sachen Krisen, Sorgen, Krieg und Not?
Wer aufgibt oder nicht für Werte einsteht und kämpft, hat schon verloren.
Ich wünsche Allen ein friedvolles Miteinander und gesundes neues Jahr 2023,
Sandra
Du sagst es !
…und ich mache mir trotzdem keine Sorgen um die Zukunft, was würde es auch ändern? Ich mache Zukunft. Mir egal, wie dünn die Decke der Zivilisation ist, oder wie gierig der Mensch.
Was würde es auch ändern? Ich wäre vielleicht nur zaghafter und das ist hier nicht zielführend.
Allerdings hat es mich erschreckt, daß es in der Ukraine auch eine von außen verursachte Hungersnot gab, der in den 1930er Jahren, der 3. 500 000 Ukrainer zum Opfer gefallen sind. Umso mehr arbeite ich an meinem
Plan, in Irland einen Wald zu pflanzen, der so viele Frucht und Nussbäume birgt, daß man ein paar Dörfer damit ernähren kann. Das ist mein Beitrag der Zerstörungswut den Stinkefinger zu zeigen, …unter Anderem.
Und hat das nicht schon ein weiser Mann einmal gesagt? : „Wenn morgen die Welt untergeht, dann werde ich heute einen Apfelbaum pflanzen,…“ Also los gehts… !