Es ist alles anders. Am vergangenen Donnerstag, dem 24. Februar, fühlte ich mich wie damals, am 11. September 2001. Nichts würde danach mehr so sein, wie es war. Die Twin Towers Europas stehen in Kiew. Die alte Normalität wird nicht zurück kehren.

Unmöglich nun, zur Tagesordnung überzugehen und einfach weiter zu schreiben über vergleichsweise Belangloses. Deshalb ein Wochenende ohne Nachrichten aus Irland, das erste seit vielen Jahren. Kriegs-Pause im Kopf und im Herzen.

Wir sehen uns mental zurück katapultiert in die Zeit der 30-er und 40-er Jahre. Am Ende des Redens sind wir konfrontiert mit dem Schrecken roher physischer Gewalt. Panzer in europäischen Innenstädten, Raketeneinschläge nicht weit von unserer Haustür. Wir, die wir nie selber einen Krieg erlebt haben, sind im Mark erschüttert.

Die vagabundierende Angst ergreift einen neuen Anker: Keine Rede mehr vom Virus, Corona scheint gebannt – jedenfalls aus dem Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit. Nun treibt uns Putins Brutalität um, nun haben wir Angst vor einem großen Krieg in Europa. Von zwei Jahren Ausnahmezustand und Unfreiheit zermürbt hoffen die Menschen inständig, dass dieser reale Alptraum schnell zu Ende gehen würde. Es bleibt wohl ein frommer Wunsch.

Von einer Zeitenwende ist die Rede, und tatsächlich sieht es so aus, dass Jahrzehnte der Verblendung zu Ende gehen und eine Zeit der Klarheit, auch der bitteren Klarheit und Wahrheit begonnen hat. Wie naiv wir doch gelebt haben, wie kompromittiert und unwahrhaftig, wie inkonsequent, maßlos und hedonistisch.

Das alles mag nun ein Ende haben, wenn die Mittel knapper werden und sich die Werte neu sortieren; wenn unser moralischer Kompass wieder lebenswichtig wird, und wir nun rückblickend verstehen, dass wir zum Beispiel Menschen auf der Flucht nicht achselzuckend im Mittelmeer ertrinken lassen dürfen, nur um unser kleines komfortables Leben nicht in Frage stellen zu müssen. Morgen schon könnten wir es sein, die um Hilfe bitten müssen.

Wir haben zu viel Freiheit preisgegeben

Das alles mag ein Ende haben, wenn wir verstehen, dass die Doppelmoral der Oligarchen nur durch unsere eigene Doppelmoral möglich geworden ist; wenn wir begreifen, dass die alle Werte zersetzenden Oligarchen nicht nur in Moskau und Londongrad leben, sondern dass wir sie auch im Silicon Valley und an der Wall Street finden müssen.

Wir beginnen gerade neu zu verstehen, dass der Firnis der Zivilisation fadenscheinig dünn ist, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt, dass Handel nicht wandelt, dass Freiheit mehr ist als die Freiheit zu konsumieren und dass Sicherheit wenig zu tun hat mit dem Kauf einer Police und mit unserer Vollkasko-Mentalität. Wir beginnen neu zu lernen, dass Freiheit und Sicherheit einen Preis haben und dass sie konsequent erkämpft und dann verteidigt werden müssen. Diese Arbeit beginnt in unserem eigenen Alltag. Nur wenn wir alle uns finden, wird sich Europa finden.

Zu viel Freiheit und Chancengleichheit haben auch wir in West-Europa in den vergangenen Jahrzehnten unserer eigenen Bequemlichkeit geopfert, zu viel Freiheit und demokratische Kultur haben wir alleine in den vergangenen zwei Jahren leichtfertig preisgegeben. Es ist deshalb falsch zu glauben, dass wir die Verteidigung unserer obersten Werte alleine an Regierungen und Militärs delegieren können. Wir alle stehen jetzt in der Pflicht, verantwortungsvoll, solidarisch und wahrhaftig zu leben und zu handeln.

 

Bere Island

Fotos: Markus Bäuchle. Zerfallender Fels in den Caha Mountains; restaurierte Kanone aus dem 1. Weltkrieg,  Lonehort Battery, Bere Island.