Smart?

 

„Leichter gesagt als getan“ ist ein wunderbarer kleiner Film des französischen Regisseurs Emmanuel Mouret über die Liebe. Die Menschen im Film sagen wortmächtig das Eine und tun das Andere. Sie wollen getreu ihren Werten handeln, und sie sind zu schwach. Sie wollen der Verführung standhalten und verführen selber. Sie wollen ehrlich sein und schweigen. Sie wollen gut sein und werden im besten Fall ganz. Das Auseinanderklaffen von Wollen und Tun, von unseren Werten und unserem Handeln, prägt diese Zeit auf erschütternde Weise. Soziologen haben herausgefunden, dass der westliche Normalo im Schnitt 190 mal am Tag gegen seine Überzeugungen und gegen besseres Wissen handelt. Eigentlich dürfte ich dieses plastikverschweißte Schnäppchen aus dem Sweatshop nicht kaufen. Eigentlich müsste ich weniger Fleisch essen. Eigentlich sollte ich nicht schon wieder mein Smartphone rausziehen, eine Zigarette rauchen, nur zum Spaß mit dem Auto rumfahren . . .  Wir stehen permanent neben uns und schauen uns wie im Tagtraum dabei zu, wie wir am Alltag scheitern und uns vom Leben kompromitieren lassen. Wir sagen dann: „Ja eigentlich . . .“ und  „Wir sollten . . .“ – oder „Wir müssten mal wieder . . .“

Vor einigen Wochen saß ich in einer Lounge der bretonischen Fähre von Frankreich nach Irland. Schaute diese junge Frau gegenüber genervt oder leicht verzweifelt zurück? Unsere Blicke trafen sich kurz, sie schienen sich einig: Nein, wir sind keine Schlafwandler, die sich am digitalen Nasenring durchs Leben schleifen lassen. Dann nahm ich das Smartphone aus der Tasche und machte das Foto, das ich Euch und Ihnen heute zeige (Zum Vergrößern drauf klicken). Die Augenblenden wurden nachträglich zum Schutz der Abgebildeten eingefügt und entwickeln ihre eigene Symbolik.

Wir sind nur noch selten hier. Wir fliehen sehend, denkend, hörend und fühlend durch den kleinen Bildschirm hindurch in das ferne Dort unserer körperlosen zweiten Wirklichkeit, in das Reich der endlos aufscheinenden leeren Versprechen. Ich wusste in diesem Augenblick auf der Fähre deutlicher denn je: Ich will mein Leben komplett zurück.

Ich habe Sehnsucht nach meinem eigenen Leben. Ich habe ihnen einen Teil davon freiwillig gegeben und fühlte mich bald getäuscht von ihren süchtig machenden Algorithmen, ihrer zerstörerischen Energie, ihrer Negativität, ihrer subtilen Macht, meinen Alltag zu deformieren. Wir sagten: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“. Sie sagen: „Wir machen kaputt, was unserer Macht und unserer Gier im Weg steht.“ Ich erinnere mich an das Leben vor dem Internet und dem Smartphone. Es liegt nur zwei, drei Jahrzehnte zurück: Anschluss ans Compuserve-Internet 1994, der erste iPod 2001, das erste iPhone 2007. Das Internet nannten wir etwas ehrfuchtsvoll das World Wide Web. Den ersten Facebook-Account legte ich 2009 an. Ein Freund hatte gesagt: „Mach erst mal 250 Freunde, sonst bist Du online ein Nichts.“ Es wurden Tausende und ich schwamm im schnellen wilden Online-Strom immer noch vorne.

Ich erinnere mich oft an die Y2K-Jahreswende. Unsere erste in Irland. Wer hätte damals geglaubt, dass wir bald jeden Tag etliche Stunden unserer Zeit diesem kleinen digitalen Bildschirm und den mächtigen Torwächtern im Verborgenen dahinter überlassen würden – freiwillig, und stets voller Erwartung? Ich nicht. Ich sah die digitale Welt als Verheißung, als hoffnungsvollen Neubeginn – und trug die Fahne der neuen Zeit vorneweg.

Ich will mein Leben ganz zurück. Was und wie viel muss ich dafür los lassen? Gewöhnung ist leicht, Entwöhnung schwer. Es gibt Fortschritte. Seit sechs Jahren keine Bestellung bei Amazon. Vor vier Jahren im September löschte ich alle Facebook-Accounts (bis auf die Recherche-Zugänge) und die anderen Social Media-Konten, und die Messenger von Meta dazu. Übrig blieben zwei Messenger, sie gehören nicht amerikanischen Oligarchen. „Was, Du hast kein Whatsapp?“ Manchmal fühle ich mich ausgeschlossen. Ich denke das Gegengift, frei nach Erich Kästner: „. . . und am schlimmsten ist die Einsamkeit im Netz.“

Seit diesem Jahr trage ich wieder eine digitale Taschenkamera bei mir, um mich von der praktischen und technisch versierten iPhone-Kamera zu entwöhnen. Manchmal benutze ich sie, die Taschenkamera. Ich habe das Internet und das Smartphone aus dem Schlafzimmer ausgesperrt, die schlaue Watch abgelegt und ziehe meine schöne Tissot wieder auf. Ich spiele mit dem Gedanken, das iPhone abzuschaffen und wieder ein sympathisch dummes Handy zu benutzen. Feature Phones oder Dumbphones heißen die jetzt. Nein, ich werde dem Internet nicht entsagen, ich will nicht zurück auf die Bäume und auch nicht zurück in die Höhle. Ich werde einfach wieder mehr hier sein, bei mir sein. Manchmal lasse ich das schlaue Gerät stundenlang irgendwo liegen und genieße das Gefühl, es nicht vermisst zu haben. Ich stelle mir vor, es zu verlieren, und werde beim Gedanken daran nicht mehr panisch. Meine Identität begreife ich leichter ohne es als mit. Das habe ich schon begriffen. Mir gefällt der neue Mut, die Augenfessel abends bis zum nächsten Morgen auszuschalten.

„Du bist gut im Loslassen“, meinte eine Bekannte kürzlich. Wenn sie wüsste. Es ist nicht aussichtslos. Ich will mein Leben komplett zurück. Andere wollen das auch, und es werden mehr, die zurück in ihr eigenes Leben streben. Die ihre Kinder schützen wollen, damit diese lernen können, was das eigene Leben ist. Wir erkennen allmählich, dass wir alle die Teilnehmer am größten Menschenversuch aller Zeiten sind. Erste irische Schulen haben das Smartphone aus den Klassenzimmern verbannt, Australien hat diese Woche beschlossen, Social Media für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren komplett zu sperren. Viel Erfolg dabei, Down Under.

Vielleicht erleben wir bald die Zerschlagung von Google-Alphabet und die von Facebook-Meta. Vielleicht werden wir Elon Musk und seine Marsianer-Kumpel irgendwann hinter irdischen Gittern sehen. Wir dürfen träumen. ::  <<—-

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Foto: Markus Bäuchle © 2024