Glengarriff

Sonja Hanskes “Base Camp” war Glengarriff, County Cork

Irlandnews-Inventur 2014: Wir durchforsten in den Tagen zwischen den Jahren, die manche die Raunächte nennen, die digitalen Regale von Irlandnews nach Unerledigtem, Liegengebliebenem, Vergessenem und Verdrängten — und dabei kommt eine ganze Menge Material zutage. All jene, die sich oder ihre Arbeit im Jahr 2014 zu unrecht nicht auf Irlandnews wiederfanden, obwohl es versprochen war, die sich vergessen und übergangen fühlten, bitten wir hiermit um Entschuldigung und um die Jahres-End-Absolution. Irlandnews, das wissen die regelmäßigen Leserinnen und Leser, ist Hobby, Tagesrandbeschäftigung, für die es weder ein Finanz- noch ein Zeit-Budget gibt. Irlandnews entsteht nebenbei.

Sonja Hanske

Sonja Hanske

Auch 2014 blieben deshalb neben vielen neuen Beiträgen, die es online geschafft haben, wieder einige Dutzend Artikel-in-spe auf der Strecke — halbfertig, viertelfertig, geplant, vorübergehend vergessen, oder sie verkümmerten im flüchtigen Aggregatszustand der guten Idee. Lesen Sie heute Teil 3 unserer Jahresend-Trostrunde — einen weiteren Beitrag, der es trotz unserer Unzulänglichkeit verdient hat, das Zwielicht des Internets zu erblicken. Heute ein Beitrag, der ungerechterweise seit 13 Monaten in der digitalen Klappe lagerte. Sonja Hanske aus dem sächsischen Großschirma schickte uns ihren Reisebericht von einem fünfmonatigen Aufenthalt in Irland, ihrem Traumland und ihrer “zweiten Heimat”. Manche basteln auf Reisen ein Fotoalbum, manche schreiben Reisetagebuch, andere schicken Postkarten oder posten mit Whatsapp in die Heimat. Sonja verfasste von ihren Erlebnissen einen Bericht mit dem Umfang eines kleinen Buches. Ich könnte viele Stellen zitieren und habe mich für eine Passage entschieden, in der Sonja eine Art der Fortbewegung beschreibt, die mich auch immer fasziniert hat: das Trampen. Ich bin selber oft per Anhalter durch Irland “gehitcht” und fragte mich in den vergangenen Jahren öfter einmal: Geht das noch? Es geht gut, wenn man/frau mit ein wenig Mut, Offenheit, Spontaneität und Zeit unterwegs ist. Hier Sonjas Bericht — und übrigens: Ihr Base Camp in Irland war Glengarriff, County Cork. Sie kennt die Gegend und die Leute hier so gut wie ich ;-)

Als ich durch Irland trampte“ sollte der Titel dieser Reisebeschreibung anfänglich heißen. Das wäre allerdings ziemlich übertrieben gewesen. Über die Counties Cork und Kerry bin ich nicht wesentlich hinausgekommen. Meine „Basisstation“ in Glengarriff ermöglichte mir, dass ich bei meinen Unternehmungen nicht ständig mein Hab und Gut mit mir herumzutragen hatte. Ein Überlebensrucksack reichte in der Regel aus. Dafür musste ich aber auch immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Diesen „Nachteil“ nahm ich aber gern in Kauf.

„To hitchhike“ war für mich das größte Erlebnis, obwohl ich es erst lernen musste. Unter Nichtbeachtung des Linksverkehrs und dass der Beifahrer links einzusteigen hat, stand ich ungünstig an der falschen Straßenseite. Mein anfänglich schüchternes Handzeichen wurde als Hinweis gewertet, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Ein Fahrer, der nicht auf das Wedeln reagiert hatte und den ich etwas später noch einmal traf, wies mich darauf hin.

Die schönste Erfahrung war für mich, dass mich sofort jeder, egal ob männlich oder weiblich, ob jung oder alt, ob Einheimische oder Urlauber, in ein Gespräch verwickelte. Nach der einleitenden Wetterfloskel wurde nach der Herkunft gefragt, ob ich das erste Mal in Irland sei, wie mir das Land gefällt und schon plauderte ich angeregt mit den sich häufig namentlich vorstellenden Fahrern. Oft erzählten mir die Älteren von sich. Manchmal kannte ich nach längeren Fahrten einen großen Teil ihrer Lebensgeschichte. Paddy lernte ich einige Tage vor meiner Heimreise kennen, als er mich von Glengarriff nach Kenmare brachte. Er erzählte mir, er sei 66 Jahre alt und fünffacher Vater. Sein schweres Arbeitsleben als Fischer hätte seine Gesundheit ruiniert. Er wäre froh, seine erwachsenen Kinder und Enkel in einem besseren Leben aufwachsen zu sehen. Das erstaunliche Angebot, mir bei Bedarf Geld für die Heimreise zu geben, lehnte ich dankend ab. Trotzdem ließ es sich Paddy nicht nehmen, mir vor der Abreise eine Flasche Rotwein zu bringen, die ich zu Hause gemeinsam mit meinem Freund trinken sollte.

Reisebricht Irland

Sonjas Reisebericht

 

In den ersten Wochen hielten fast nur Frauen an. Zwei Schwestern, um die 60, unterhielten sich über meinen „Mut“. Sie sagten kichernd, sie würden niemals auf diese Art reisen, fänden es aber gut. Seitdem jede Familie mindestens ein Auto besitzt, wäre es im Gegensatz zu früheren Zeiten nicht mehr üblich, per Anhalter zu fahren. Ich glaube, ich war für viele so etwas wie eine Erinnerung an diese Zeit, als sie selbst am Straßenrand standen.

Eine streng blickende, elegant gekleidete Dame sagte mir, sie hätte nur wegen meiner freundlichen und offenen Ausstrahlung angehalten. Normalerweise würde sie das nicht tun. Bevor sie mir Fragen stellte, erfuhr ich, dass sie sich nach ihrer Pensionierung als Lehrerin mit dem schnellen Luxusauto ihren Traum erfüllt hätte. Joan Mattenci, eine mit einem italienischen Geschäftsmann verheiratete attraktive Frau, lud mich sogar in ihr Ferienhaus ein. Sie sagte, sie wolle es nun auch wagen, alleine losziehen. Ihr erwachsener Sohn sei ebenso wie sein beschäftigter Vater kaum noch zu Hause. Auch Hazel wurde mir eine liebe Gesprächspartnerin. Mehrmals sah sie mich am Straßenrand stehen und hielt für mich an. Sie wohnte in Bantry und arbeitete im Parkhotel Glengarriff an der Rezeption. Hin und wieder besuchte ich sie dort für einen kurzen Schwatz. Bei einem zufälligen Treffen in Bantry gingen wir dazu in ein Café.

Ein Herr, der auf dem Beifahrersitz sein „Büro“ eingerichtet hatte, hielt öfters an. Jedes Mal war der Stapel von Unterlagen, auf dem ich saß, etwas kleiner. Er scherzte über sein fahrendes „office“ und sagte, er hätte schon von der Gegenfahrtrichtung nach mir Ausschau gehalten. Von den jährlich mehreren Millionen ausländischen Besuchern sollen mehr als die Hälfte Briten sein. Ihre Höflichkeit und Herzlichkeit sind mir besonders in Erinnerung. Mit einigen von ihnen verband mich schon nach kurzer Zeit ein freundschaftliches Gefühl. Manchmal wurde ich gefragt, ob ich Französin sei. Mein Äußeres und meine „personality“ wären nicht typisch deutsch, ebensowenig wie die weiche englische Aussprache. Ich glaube, die hängt mit meinem sächsischen Dialekt zusammen. Ohne Ausnahme wurde mir von allen versichert, sie mögen die Deutschen und ich sei herzlich willkommen. Die vielen netten Worte, die ich als ehrlich empfand, waren für mich sehr ungewohnt.

Nicht immer hatte ich einen Plan, wohin es gehen sollte. Dann ließ ich den Zufall entscheiden, welche Gegend ich erkunden würde. Da mir alles unbekannt war, fuhr ich anfangs einfach mit den mir sympathischen Fahrern bis zu deren Ziel mit. Dieser Spontanität verdankte ich zum Beispiel am 24. August meinen Ausflug mit einem etwa 70-jährigen Engländer nach Co. Kerry. Eigentlich sollte es nur ein kurzer Trip werden, denn es war bereits Mittagszeit. Er war der Erste der anhielt und ich nutzte nach einem kurzen Gespräch die Chance, nonstop bis zum etwa 100 Kilometer entfernten Ort Tralee zu gelangen. Gleich beim Einsteigen hatte ich das Gefühl, einen lieben alten Bekannten wiederzusehen. Während der zweistündigen Fahrt unterhielten wir uns angeregt. Als wir uns mit einer Umarmung voneinander verabschiedeten, wusste ich, dass er jedes Jahr einmal in seinen Geburtsort auf der Beara-Halbinsel fährt, um dort mit seinem Schulfreund Golf zu spielen. Seine Frau war an Krebs gestorben, aber seine Kinder, Enkel und Urenkel, die in Großbritannien leben, würden ihm viel Freude bereiten.

Einige meiner Zufallsbekanntschaften sorgten sich um mich. So hielt eine Mutti, die mit ihren beiden kleinen frisch geimpften Kindern unterwegs war, eine halbe Stunde später nochmals an. Sie war mit ihrem Mann auf dem Rückweg und traf mich an einem anderen Platz an, als eigentlich vorgesehen. Ebenso konnte ich einen Mann beruhigen, der mich fürsorglich fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich saß lediglich am Straßenrand, um mich etwas auszuruhen. Diese kleinen Begegnungen hinterließen bei mir ein Gefühl des Glücks und Wohlfühlens. Es war schön, wieder wahrgenommen und ab und zu mit einem Hupen gegrüßt zu werden.

Ein sehr großer sympathischer Mann mit kurzem grau-blonden Haar nahm mich zweimal mit unterschiedlichen Autos von Bantry nach Glengarriff mit. Nachdem er mich nach meinem Namen gefragt hatte, rief er eines abends bei Ann an. Mein Flyer war ihm in der Bücherei aufgefallen. So lernte ich Paul kennen, der mir ein guter Freund wurde.

Etwa zehn Jahre zuvor hatte er nach einem Zelturlaub beschlossen, von London in den Süd-Westen Irlands zu ziehen. Zuerst wohnte er in seinem ausgebauten Bus am Strand. Nachdem er eines Morgens während der Flut mitten im Ozean erwacht war, suchte er sich in dem kleinen schönen Ort Allihies eine neue Bleibe. Amira, die Deutschland verlassen hatte, gab ihm diese Möglichkeit. Er brauchte viel Platz für seine Leidenschaft, alte Autos und Motorräder aufzubauen. Für mich war es immer eine Überraschung, womit er mich mitnehmen würde.

Hin und wieder wurde ich gewarnt, vorsichtig und nicht zu vertrauensselig zu sein. Diesen Ratschlag befolgte ich, als ein mit vier Männern fast voll beladenes Auto anhielt. Nachdem ich dankend abgelehnt hatte, wurde ich von einer jungen Frau bis Castletownbere mitgenommen. Am Zielort angekommen, winkten mir bei einem Stadtbummel die vier Herren freundlich zu. Ich versuchte, immer vor dem Dunkelwerden zu Hause zu sein. Falls es eine heikle Situation gab, stieg ich baldmöglichst wieder aus. So ein „Erlebnis“ hatte ich glücklicherweise nur einmal. Ein alter Mann in einem klapprigen Auto teilte mir als Deutsche seine Verehrung für „Gitler“ mit. Diese mir vollkommen unverständliche Einstellung habe ich nach dem Lesen des Buches „Die Asche meiner Mutter“ überdacht und mögliche Gründe für diese Meinung gefunden. Ich hätte mich bereits vor meiner Reise mit der Irischen Geschichte befassen sollen. Jedenfalls stieg ich sofort wieder aus und befand mich an der Kreuzung nach Ballydehob. So kam ich das erste Mal in diesen später von mir noch oft besuchten Ort.

Viele Erlebnisse und Erfahrungen verdanke ich nur meinem „Mut“, mich auf Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen einzulassen. Ann nannte es „open minded“. Einige der späteren Mitbewohnerinnen in den Hostels waren erstaunt über meine Schilderungen. Sie waren entweder mit dem eigenen Auto oder Bussen unterwegs und hatten so wesentlich weniger Kontaktmöglichkeiten. Während dieser Reisen spürte ich eine gewisse Seelenverwandtschaft mit den irischen Menschen. Mir war von Anfang an so, als ob ich nach Hause gekommen wäre.”

PS: Trampt mal wieder! Und wer sich für den kompletten Reisebericht interessiert: Wie stellen gerne den Kontakt zu Sonja her. Email an markus@irlandnews.com genügt.