Berge Irland
Es gibt Zeiten, da möchte ich aus der Menschheit austreten und mich einem großen wogenden Wald anschließen, oder einer Tierherde, die mehr oder minder friedlich durch die Savanne streift.
 Mit den Wildgänsen ziehen, oder mit dem Atlantischen Lachs. Gerade ist eine solche Zeit. Mit diesen Gedanken bin ich aufgewacht. Ukraine, Minsk, Athen, Brüssel, Nigeria, Irak, Syrien, Washington, Moskau, München, Frankfurt am Main. Irgendeinen Krisenherd vergessen? Keine Spezies tut sich schwerer mit dem friedlichen Zusammenleben als wir Menschen. Mein Gott, was hättest Du besser gemacht, wenn es Dich gäbe? (Version für den gläubigen Menschen: Mein Gott, warum ist Dir dein “Meisterwerk” beim Schöpfen, am Nachmittag des sechsten Tages muss es gewesen sein, so aus dem Ruder gelaufen?)

Dann richten sich die Gedanken in Richtung der nahen Berge, der Blick gleitet langsam über den weiten Atlantik — und ich beschließe wieder einmal, zu bleiben. Mensch, das Leben ist wunderbar. Trotzdem. Erste Male sind besondere Erlebnisse. Vorgestern bestieg ich zum ersten Mal einen Berg, den ich seit 15 Jahre kenne. Ich bin so oft an ihm vorbeigefahren, er lag stets vor mir als immer währende Möglichkeit — ein großer rundlicher Klotz aus zerfurchtem altem Sandstein — über der Bucht auf der Beara Halbinsel. Nur 350 Meter hoch und doch ein solider Brocken: der Mountain. Still grüßt er die Autofahrer, die Richtung Lands End unterwegs sind oder über den Pass kurven. Er liegt dort seit Ewigkeiten, er hat viel mit gemacht, ist weit gereist, war schwer unter Druck, hat tief eingewirkte Falten und Furchen, ist gar ein wenig herunter gekommen im Vergleich zu früheren majestätischen Höhen — und doch liegt der steinalte Solitär gelassen, souverän und im Frieden mit seinen Nachbarn in der Landschaft der Cahas.

Fisch Vogel Schaf

Man sieht es auf der Küstenstraße: Hoch oben, unterhalb der 300-Meter-Linie, leuchtet ein mächtiger Kiesel im Fels in den Farben rot-weiß und irritiert  Touristenaugen. Seit einigen  Generationen steigen jedes Jahr Menschen mit Farb-Eimern auf den Berg. Sie gehen im nassen Moor und kraxeln über Sandstein-Kaskaden, steuern zielstrebig den mächtigen Findling an, der wie ein archaisches Tier, mal  Fisch, mal Vogel, mal Säuger-Schädel auf einer Felskante ruht — zur Weiterreise bereit, aber seit einem Wimpern-Schlag der Erdgeschichte ohne Mitfahrgelegenheit. Der letzte große Gletscher hatte den erratischen Block vor zehntausend Jahren dort hingeworfen, ihn bei seinem tränenreichen Rückzug am Ende der Eiszeit liegen lassen. Der Findling verbindet uns mit der Zeit, als die Meeresbucht dort unten noch ein Tal war, eine grüne Talaue mit einem Süßwassersee in der Mitte, dem Bantry Lough.

Was motiviert Menschen, einen einzelnen Steinblock hoch oben in der Einsamkeit einer bizarren Felslandschaft mit roter und weißer Farbe zu bemalen? Sind das archaische Riten, vorchristliche Bräuche? Wussten und wissen sie um eine tiefere Bedeutung des Ortes?

Der Mensch ist nicht nur feindseliger Krieger. Wenn er friedlich kämpft, wird er zum Spieler. Homo ludens. Sport ist deshalb so etwas wie die Weiterführung des Krieges mit friedlichen Mitteln. Die Menschen mit den Farbeimern waren, sie sind Anhänger des Spiels. Der Berg grüßt in den Farben der Mannschaften von Cork: rot und weiß. Die Krone des Gaelic Football für die Kämpfer von Cork. Up the Rebels. Rot-weiß vor grün-gelb. Der All Ireland Pokal will nach Hause geholt werden, Jedes Jahr aufs Neue. Noch herrscht Ruhe auf den knöcheltief nassen Football-Feldern Irlands. Doch bald steigen die Kellys von Beara wieder hoch hinauf, um das steinerne Urtier zum Leuchten zu bringen. Weithin sichtbar die Farben der Unschuld und des Blutes. Lasst uns spielen.