Das alte IrlandThe map ist not the territory, sagt der Ire: Die Karte ist nicht das Gebiet. Wir alle tragen eine Vorstellung von unserer physischen Umgebung in uns. Wir benutzen innere Landkarten, die uns Orientierung in unserer Straße, unserem Dorf, unserem Stadtteil geben. Jeder Mensch liest diese inneren Landkarten – und immer sind sie subjektiv, manchmal falsch, veraltet oder zumindest mit dem Gebiet, der physischen Realität, nicht in Einklang zu bringen. Ist das der Fall, neigen wir zum Verlaufen, Verirren und uns Verlieren.

Unser Nachbar P.J. – die Abkürzung steht für Patrick John – ist Farmer aus Leidenschaft. Während andere Menschen seines Alters mit 70 Jahren der Muse frönen oder die Rest-Gesundheit tagesfüllend verwalten, treibt P.J. munter seinen kleinen Bauernhof um. Er arbeitet gerne und viel. P.J. ist ein irischer Farmer alter Schule. Er liebt das Land, die Felder, die Tiere, die Offenheit der Landschaft. P.J.s innere Landkarten wurden zu einer Zeit angelegt, als Irland ein anderes Land war.

Wir gingen kürzlich zusammen über Land (Foto). Es war ein Mittwoch. Im Sonntagsaufzug zeigte mir P.J. seine Ländereien. Die knöcheltief nassen Kuhpfade, auf denen wir uns bewegten, konnten der Krawatte nichts anhaben. Die gut gedüngten Wiesen ziehen sich bis hinunter ans Meer. Ist das Gras erst einmal nachgewachsen, werden hier schon bald wieder Rinder weiden.  Der Ortschafts-Name Ardaturrish (Ard a Turris) weist auf eine frühere Bedeutung hin: Die Höhe der Pilgerschaft. Und tatsächlich lassen sich hinter Weißdornhecken, unter Brombeergestrüpp und inmitten kleiner Baumgruppen zahlreiche Spuren verschwundenen Lebens erkennen: Die einst als heilig verehrte Quelle, die die Menschen der Gegend an festgelegten Tagen im Jahr betend umrundeten. Hausruinen aus der Zeit der Famine Mitte des 19. Jahrhunderts, als der große Hunger die Ortschaft Ardaturrish und vor allem das angrenzende Ardnamanagh fast vollständig ausradierte.

PJs Land

Unten im Feld ein Killeeen, ein Grabfeld aus jener Zeit, wo die Opfer des Hungers und der Seuchen in einem Massengrab liegen. Der Landbesitzer, P.J.s Nachbar, fährt beim Mähen immer schon einen großen Bogen um die Markierungen aus Stein, die entfernt an heutige Grabsteine erinnern. Dort unten am Meer die letzten Reste eines Forts, daneben das Sailor´s Grave: Dort hat es vor langer Zeit, genaue Angaben gibt es nicht, die Überreste eines fremden Matrosen angeschwemmt. Und schließlich, dort drüben, zwischen den Bäumen, die Überreste eines kleinen Klosters. Hier haben einmal Mönche gelebt — nahe am Meer und vielleicht nahe bei Gott.  P.J. erinnert sich gut, wie die Leute der Gegend die Steine der Kloster-Ruine abtrugen, um sie für den Bau ihrer Häuser zu verwenden.  Wann das war? Vor langer Zeit.

Wir suchen die alten Wege zwischen den alten Häusern, die Straße, die parallel zur Küste die Ortschaften miteinander verband. Sie alle existieren auf PJs inneren Landkarten noch immer. Doch jenseits seiner Wiesen ist Irland ein anderes Land geworden. Hermetisch, verriegelt, abgeschottet. Die alten Wege und Sträßchen sind verschwunden, die Verbindungen sind durch Zäune, Hecken und Tore gekappt. Irland ist kein offenes Land mehr, in dem das ungeschriebene Gesetz der freie Zugang zum Land war: You cannot stop a man from walking your land . Du kannst einen Mann nicht davon abhalten, über Dein Land zu gehen. 

Auf unserer Suche nach dem alten Gebiet, das zu den inneren Karten passt, begegnen wir hinter hohen Zäunen einem stolzen Ferienhaus-Besitzer. Der Mann macht uns schnell klar, dass wir völlig am falschen Platz sind. Gemäß seiner inneren Karte ist das alleine sein Revier. Hunde heben in solchen Situationen das Bein — der neue Nachbar kläfft nur. P.J. lässt sich von der Ärgerlichkeit nicht anstecken, er wirkt allenfalls irritiert: Heute wollen viele Menschen ungestört sein, sie verlangen nach ihrem Privatbereich. Nein, er mag das nicht, diese Privacy, die Abschottung, die Zäune, die neuen inneren Karten, die vom Haben-Müssen gezeichnet wurden: Meins. Privat. Bleib draußen. Alles innerhalb des Zaunes gehört nur mir. Privat-Eigentum. Keep out. Bye-bye Gemeinde.

PS: P.J.s innere Landkarten wurden zu einer Zeit angelegt, als Irland ein anderes Land war. Das heißt nicht, dass seine Karten unzeitgemäß oder veraltet wären. Sie enthalten wahrscheinlich mehr Informationen über eine lebenswerte Zukunft, als es manchem Besetzer-Besitzer, Zaunbauer und Torwächter lieb ist.