Atlantik Cliffs of Moher

 

Vermisst im Atlantik: Die Cliffs of Moher sind ein gefährlicher Ort. Jedes Jahr fallen Menschen von den über 200 Meter hohen Steilklippen in den Tod, weil sie unvorsichtig oder unachtsam waren. Jedes Jahr springen Menschen bewusst von den Klippen, weil sie nicht mehr leben wollen. Der Atlantik ist ein gefährlicher Ort: Jedes Jahr ertrinken Fischer vor der irischen Küste, weil ihre Boote in schwerem Wetter kentern, manchmal auch Angler, die von einer hohen Welle von den Felsen gespült werden. Wenn Menschen ins Meer fallen, wird immer eine Suche ausgelöst. Die Helikopter der Küstenwache und Suchboote setzen sich in Bewegung, manchmal in der Hoffnung, die Verunglückten noch lebend zu finden  – meistens aber, um die leblosen Körper zu bergen.

Am 21. Mai vergangenen Jahres sprang ein Mann aus dem County Galway vor den Augen eines Wanderers von den Cliffs of Moher. Seine Leiche konnte gefunden und geborgen werden – was nicht immer gelingt. Im November 2021 berichteten die irischen Medien über die gerichtliche Untersuchung des Klippen-Falls – und dies in der üblichen Weise mit den üblichen Formulierungen:

“Die Leiche des 38-jährigen Mannes aus Co Galway wurde von Mitgliedern der Küstenwache im Rahmen einer Suchaktion in Zusammenarbeit mit dem Rettungshubschrauber 115 geborgen. Die gelang noch am selben Nachmittag, an dem der Mann am Montag, dem 31. Mai 2021, von den Cliffs of Moher gesprungen war.

Bei der gerichtlichen Untersuchung im Beisein von Familienmitgliedern sagte die Mutter: “Dies ist ein kleiner Trost, aber es ist ein Trost. Man hört von so vielen Leichen, die noch vermisst werden. Wir würden durchdrehen, wenn die Leiche noch vermisst wäre. Wir fühlen mit all den Müttern und Vätern der Menschen mit, die noch vermisst werden. Nur weil uns selbst so etwas passiert ist, geht uns das jetzt zu Herzen” (aus: Breakingnews.ie).”

Cliffs Danger

In den Berichten von Unfällen im Meer und von der anschließenden Suche nach vermissten Menschen wird immer auf den Wunsch der Angehörigen hin gewiesen: Die Vermissten müssen unbedingt gefunden werden, auch wenn es nur die toten Körper sind. Das sei entscheidend für die Hinterbliebenen: Sie bräuchten Gewissheit, damit sie ihren Seelenfrieden finden.

Vor kurzem traf ich die Eltern von Roland. Der 31-jährige Holländer verschwand an einem stürmischen Samstag im Februar 2014 zusammen mit seinem Freund (33) an der Küste West Corks im Meer. Die Eltern, die in West Cork ein Ferienhaus besitzen, in dem ihr Sohn jahrelang die Sommermonate verbracht hatte, wissen bis heute nicht, was genau mit Roland passierte. Die Leiche des Freundes wurde nach zwei Tagen, an einem Montag, in einer Bucht unweit des Ferienhauses aus dem Wasser geborgen. Roland wurde nie gefunden.

Die Eltern kehren trotz dieses schweren Schicksalsschlages jeden Sommer in ihr Ferienhaus und an den Ort des Unglücks zurück. Die Mutter sagt, dass Eltern einen solchen Verlust niemals überwinden können. Der Schmerz sei immer präsent, wohl für den Rest des Lebens. Sie sagt auch, dass sie sich nach dem Verschwinden Rolands sehr gewünscht hatte, dass er gefunden würde. Das habe sich im Lauf der Zeit geändert. Sie hat sich damit abgefunden.

Friedhof Irisch

Viele Menschen brauchen einen Ort, an dem sie um ihre gegangenen Liebsten trauern können. Dieser Ort ist traditionell das Grab auf dem Friedhof. Witwen und Witwer gehen täglich zum Grab ihres Partners, um ihm über die Grenze zwischen Leben und Tod hinweg nahe zu sein. Sie bringen Blumen, sprechen mit ihm, erzählen von ihrem Tag, sie fragen um Rat. Manche bekommen Antwort, halten Zwiesprache. Im irisch-keltischen Glauben spielt das Wissen um dünne Orte und die dünne Zeit eine wichtige Rolle. Zu gewissen Zeiten, wie an Samhain zu Beginn des Trauermonats November, wird der trennende Schleier zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten dünn und durchlässig. Dann ist es besonders leicht, Kontakt aufzunehmen. Für dünne Orte gilt dasselbe.

Ich bin mir nicht sicher, ob wir alle einen Ort zum Trauern und Erinnern brauchen. Wenn ich die immer gleich formulierten Berichte in irischen Zeitungen nach Meeresunglücken lese, steigt in mir stets der Verdacht auf, dass dieser Wunsch nach dem Finden und dem Ruhen am letzten Ort eher ein kulturell geformtes, formbares Bedürfnis, als ein menschliches Urbedürfnis ist. Immerhin können wir gut damit leben, wenn sich Menschen wünschen, dass ihre Asche im Meer, am Strand, im Wald oder in den Bergen verstreut wird. Kann es nicht auch ein tröstlicher Gedanke sein, dass auf diesem wunderschönen Planeten Erde nichts verloren geht, dass wir alle ein Teil des großen Ganzen sind und auch nach unserem Tod bleiben? Egal wie? Egal in welcher Form? Egal an welchem Ort?

Fotos: Markus Bäuchle; der Atlantik bei Doolin mit Blick auf die Cliffs of Moher; Friedhof auf Beara