Wir wohnen am Ende einer langen Sackgasse, deren Anfang viel verspricht: Der freie Blick von der Hauptstraße am Wild Atlantic Way über die weite Bucht lockt zum Runterfahren: Ich will ans Meer. Das wollen wir doch alle, oder? Vor 20 und noch vor zehn Jahren versuchten tagtäglich zahlreiche Urlauber über unseren Straße genannten Feldweg ans Meer zu kommen und scheiterten enttäuscht an Nachbars Tor am Ende der Sackgasse. Manche fuhren bei ungestümen Wendemanövern ihre allzu großen Mittelklasse-Mietwagen auch schon mal in unseren Gartenzaun.
Seit einigen Jahren ist das vorbei. Disziplinierte Erforscher*innen des Wild Atlantic Ways lassen sich von Meerblick und Seitenstraße nicht mehr ablenken und folgen stur dem Plan: Weiter zum nächsten Aussichtspunkt, den jedes Kind am rostigen WAW-Galgen von weitem erkennt. Der touristische Weg entlang der Atlantikküste ist vorgezeichnet, ausgezeichnet, überraschungsfrei. Konfektioniert wie ein Pauschalurlaub.
An einem anderen Ort ein anderes Ich ausprobieren
In den vergangenen Wochen habe ich mir wieder einmal besonders viele Gedanken über das Urlauben und Ferienreisen gemacht – seit die Neid-Debatte um vorösterliche Mallorca-Urlauber in Deutschland hohe Wellen schlägt, während man Irland und seinem Fünf-Kilometer-Corona-Gehege nur mit faulen Tricks in die südliche Urlaubssonne entrinnen kann.
Das liegt auch daran, dass wir selber Wanderreisen in Irland veranstalten und gerade versuchen, uns eine späte Wandersaison 2021 vorzustellen. Bei aller eigenen Betroffenheit irritiert mich allerdings, welche Rolle dem Reisen in der Freizeit-Gesellschaft der 20-er Jahre zukommt. Aus Spaß wurde Ernst: Das Reisen zum Spaß ist heute eine der größten erdenklichen Projektionsflächen geworden. Im Fort-Sein liegt das Heil. Und je mehr man uns in Lockdowns gefangen hält, umso heftiger tagträumen wir von der vermeintlich heilen Welt von Malle, Kreta oder grüner Insel.
Ob die kleinen regelmäßigen Fluchten aus dem Alltag wirklich immer das halten, was die traum-produzierende Reiseindustrie uns verspricht, weiß ich weniger denn je. Manchmal habe ich das Gefühl, der Erfolg der Reise ist eingepreist und steht schon vor Reisebeginn unerschütterlich fest. Immerhin lässt er sich in den sozialen Medien als solcher problemlos zelebrieren. Bei aller Unentschiedenheit in der Frage der Erfolgsquote stellt sich immerhin die Frage, was die Urlaubsreise als Gegenmodell zum Alltag so unwiderstehlich macht? Ist es die Aussicht an einem anderen Ort ein anderes Ich ausprobieren zu können, oder ist es vielleicht der unausstehliche eigene Alltag?
Warum aber fährt uns kein Mietwagenfahrer auf der Suche nach dem Wasser mehr den Gartenzaun weg? Vielleicht, weil sich das Reiseverhalten in Zeiten des Internets in wenigen Jahren drastisch verändert hat: Der einst gerühmte Free Independent Traveller (FIT), der abenteuerlustige und ein bisschen wagemutige „Ich-reise-auf-eigene-Faust“-Urlauber ist zu einem ängstlichen Pauschalreise-Teilnehmer in kleinstmöglicher Gruppe mutiert (Gruppengröße von 2, genannt Paar, bis 6, Freundeskreis oder Familie).
Von unsichtbarer Hand gelenkt, steuert er seinen Mietwagen (oder das Wohnmobil) im streng getakteten Zeitplan entlang vorgeschlagener Routen, an denen sich die echten und die vermeintlichen Sehenswürdigkeiten wie auf einer Perlenkette aufreihen. Wo bleibt die Lust, vom Weg abzukommen, spontan einen Umweg zu fahren oder die fremde Gegend in der Tiefe zu erkunden, vielleicht sogar Menschen zu treffen, die nicht von Berufs wegen Gastgeber sind? Ohne Navi und ohne Handy, einfach so, into the blue . . .
Die Landkarte ist das Territorium
Der Reise-Browser der 20-er Jahre verwechselt leicht das Territorium mit der Landkarte. Er* durchfährt das Territorium, nur um nachzusehen, ob er das, was er von der Landkarte schon kennt, auch noch da ist. Die Landkarten der Gegenwart, das sind nicht mehr diese ollen Faltpläne aus Papier, die man von den Großeltern noch kennt. Sie heißen Navi und App, Tripadvisor und Expedia, Wild Atlantic Way oder Ireland’s Ancient East.
Die Tourismus-Vermarkter verkaufen uns konfektionierte Reisepralinen mit viel raffiniertem Zucker, billigem Fett (Folklore) und allenfalls natur-identischen Geschmacksstoffen (Local Flavour) – und wir verwechseln diese allzu gerne mit einem gesunden nahrhaften Gericht. Wir selber bestätigen in einschlägigen Bewertungsportalen die Bestätigung der Bestätigung, und so wird das vermeintlich individuelle Reiseerlebnis zur Self Fulfilling Prophecy, zu einer erfahrungsarmen Unternehmung von der Stange.
Die Rechnung der Manipulations-Magier in den Marketingabteilungen geht voll auf: Sie leiten die Reiseströme in die gewünschte Richtung, konzentrieren sie und schneiden nebenbei ganze Regionen von den touristischen Surf-Routen ab. Für die Menschen, die vom Tourismus leben, ist es natürlich entscheidend, welche phantasievollen Landkarten von den Traumproduzenten gemalt werden. Hat man* das Glück, sein B&B in der Nähe eines Galgens zu betreiben, oder findet man sich eher in den abgehängten Gegenden wieder?
Kill-Sale: Das Gateway zum echten Anfang
Anfang März erhielten wir Einblick in einen bizarren Streit, der deutlich macht, wie der Rubel und der Reise-Euro rollen. Fáilte Ireland, die nationale Tourismus-Behörde, bastelt gerade an Rezept und Image ihrer leicht angestaubten Edel-Praline Killarney. Für den Tourismus-Hotspot am Fuß der Kerry-Berge soll – Vorsicht, Marketing-Prosa – „eine neue Destinations-Positionierung und eine aufgefrischte Marke kreiert werden, die auf den Wild Atlantic Way abgestimmt ist und sein Potenzial als Stützpunkt für die Erkundung der Region anerkennt“ (O-Ton Fáilte Ireland).
Aus der nationalen Landkarten-Malerwerkstatt von Fáilte Ireland war das Gerücht entwichen, dass Killarney als neues südliches Gateway (Tor) zum Wild Atlantic Way (WAW) beworben werden soll. Der laute Aufschrei des Entsetzens im amtierenden südlichen WAW-Gateway Kinsale ließ nicht auf sich warten: Das Gateway zum Wild Atlantic Way im Süden, das sind wir. Kinsale, West Cork, Gateway. Punkt.
Fáilte Ireland versuchte mit Wortgeklingel zu schlichten. Demnach soll Killarney nun eher eine Base, also ein Stützpunkt zur Erkundung der Region, als ein Gateway, ein Tor zur Erkundung der Region werden. Dann meldete sich auch noch der Cork Airport zu Wort: Ja, aber, das Gateway sind doch eigentlich wir. Denn die Wild-Atlantic-Way-Fahrer fliegen schließlich über das Gateway Cork Airport ein. Vermittlungsversuche probierten es mit einer weiteren neuen Vokabel. Kinsale sei und müsse heißen: Der echte Anfang des WAW. (The real start) Wie wärs mit einem Kompromiss: „Kill-Sale – Das Gateway zum echten Anfang“?
Man wird sich einigen. Auf eine Sprachregelung, auf eine aktualisierte Landkarte und auf eine Strategie, mit welchem Marketing-Sprech künftige Irlandreisende eingeseift und auf ihren individuellen Pauschalurlaub eingestimmt werden. Man wird sich einigen, wie die Marketing-Millionen platziert werden, um die freien Individualreisenden hunderttausendweise via Luftbrücke über das Gateway zum echten Anfang, danach zum Stützpunkt und schließlich über den 2500 Kilometer langen WAW-Parcour zu schicken.
Das Gute an der Sache: Niemand fährt mehr in unseren Gartenzaun.
Fotos: Markus Bäuchle
Lieber Markus,
ich bin auf meinen Reisen (mit Mietauto aber stets ohne Navi sondern mit Ordnance Map) schon oft durch diverses intuitives Abbiegen an wunderschönen Orten gestrandet, von denen wie durch Zauberhand immer auch ein Gässchen zurückführte. Auch manche der stillen Orte wie die hier vorgestellte mit Efeu überwucherte Friedhofskirche habe ich sogar trotz besagtem Atlas nur durch Probieren diverser Einfahrten gefunden. Das macht das Reisen umso spannender und eindrucksvoller als das Abarbeiten von Tour-Hotspots.
Liebe Grüße aus Brandenburg
PS: Hurra, übermorgen beginnen die Ferien.
Amüsiert habe ich diesen Bericht gelesen…Dein armer Gartenzaun wird froh sein das keiner mehr gegenfährt …und ihr bestimmt auch . Wobei ich feststellen muss, unser Reiseverhalten scheint wohl ein Relikt aus vergangener Zeit zu sein.Nix pauschal , alles selbst gesucht und geplant.
Wenn wir reisen, dann mit Karte und Reiseführer in Buchform. Nichts liebe ich mehr als meinen Mann ( und Fahrer) in die“ Wildnis „zu schicken. Als Beifahrerin passiert es mit leider häufiger, dass ich rechts und links verwechsel….das hat uns schon manchen Tripp in die Einsamkeit beschert. Oder zu schönen Ecken geführt die eben nirgendwo beschrieben sind ( an deinen Gartenzaun allerdings noch nicht) . Das macht immer wieder Spaß und wird auch so bleiben , sollten wir irgendwann wieder reisen können /dürfen.
Gruß über den Zaun ;-)
Martina
Lieber Markus,
sei gewarnt: Was früher vielleicht das Ansteuern von kleinen GeoCaches rund um Glengariff war, wird in dieser Saison (??) wahrscheinlich zu: „Wo ist der Gartenzaun von Markus?“.
Mach dich auf was gefasst!
Auf meiner Liste der „1000 Plätze, die du in deinem Leben aufgesucht haben solltest“ ist er jedenfalls schon vermerkt. Eine Tasse Tee und ein Scone dazu – gereicht von dir übern Zaun, – würde das Ganze perfekt machen.
In froher Erwartung
Werner
Lieber Werner,
Du sprichst hier einen wunden Punkt an. Ich habe länger überlegt, ob ich die Geschichte so schreiben kann. Denn tatsächlich gibt es Zeitgenossen, die keinerlei Respekt vor der Privatsphäre anderer haben. Diese Menschen (es sind nicht allzu viele) reisen allerdings gezielt und ohne Nachfrage oder Anmeldung an – und ich kann Dir versichern: Die Gastfreundschaft hält sich in diesen Fällen in engen Grenzen.
Auf Deinen Besuch freue ich mich, und Tea & Scones wird es in gemütlicherem Rahmen als über den Zaun hinweg geben . . . ;-)