»Würdest du sagen, n Ende ist absehbar, Charlie?
Ich würd sagen, du bist schon ziemlich nah dran an ner Antwort auf diese Frage, Maurice.
 Iren, melancholisch im dumpfen Scheinwerferlicht des Terminals,
zeigen alle Anzeichen von anhaltendem Kummer und Leid –
das ist ihnen mit der Muttermilch eingeflößt worden und in Fleisch und Blut übergegangen.
« (S. 9)

 

Alternde Gangster, alte Kamellen

 

Nachtfähre nach Tanger, von Kevin Barry,
übersetzt von Thomas Überhoff.

Rezensiert von Ellen Dunne

Am Hafen der spanischen Hafenstadt Algeciras versammelt sich menschliches Treibgut jeglicher Coleur, um eine Nachtfähre ins marokkanische Tanger zu erreichen – oder ihr zu entsteigen. Unter ihnen soll sich auch Dilly befinden, die Tochter des Has-been-Drogenganoven Maurice. Gemeinsam mit seinem alten Kumpel Charlie Redmond versucht er seine längst entfremdete und verschollene Dilly abzupassen. Aber wie ein weiblicher Godot lässt Dilly auf sich warten – und bei vielen Drinks und einer kräftigen Prise Selbstmitleid lassen Maurice und Charlie eine Nacht lang ihre gemeinsame Vergangenheit Revue passieren. Die ist geprägt von Drogen, Gewalt und der großen, verlorenen Liebe. Das klingt jetzt ein wenig zu bekannt und nach Kitsch noir? Ist es auch. Aber auf hohem sprachlichen Niveau.

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

»Die Wände sind geschmolzen. Die Uhr ist die Treppe runtergeflossen. Wir waren fast pausenlos zugedröhnt. Das tut mir heute wirklich leid. Da hab ich viel verpasst. N ganzer Teil meines Lebens ist einfach so dahingeschwunden. An 1997 erinnere ich mich gar nicht, Charles, und 98 hab ich auch nicht mehr so parat. Cynthia? Die hat mich aufrechterhalten.« (S. 53)

Kevin Barry: Sprachvirtuose und „monströser Egomane“ aus Limerick

Schon mit seinem Debütroman „Dunkle Stadt von Bohane“ sorgte der 1969 in Limerick geborene Journalist und Autor Kevin Barry für Aufsehen. 2013 gewann er mit seiner sprachlich ausgefallenen Darstellung eines dystopischen, von rivalisierenden Gangs kontrollierten Irland im Jahr 2053 den mit 75.000,- Euro dotierten Dublin Literary Award. So wie sein Erstling, taucht auch „Nachtfähre in Tanger“ wieder ein in die Welt der verderbten Gangster und Verlierer, der menschlichen Monster und jener, die ihrem Prinzip der verbrannten Erde zum Opfer fallen. Das sind vor allem die Partner und Familien, und letztendlich die Gangster selbst. Auch sich selbst bezeichnete der Autor 2011 in einem Interview als “monströsen” Egomanen, denn „nur so kann man gut schreiben“.

Ob satirisch gemeint oder nicht, solche Aussagen lassen mich die Augen verdrehen. Kevin Barrys Autorenpersona bedient damit ähnliche Klischees wie seine Hauptfiguren: die des saufenden, egozentrischen, frauenfeindlich liebenden Male Egos. Zwischen Selbstzerstörung und Selbstmitleid oszillierend, taumelt es seinem bitteren Ende entgegen, ohne Rücksicht auf die Verluste anderer, und dann soll man bitteschön noch Empathie für die „menschlichen Schwächen“ entwickeln. Nein. Dafür habe ich schon zu viele ähnliche Stories von zu vielen von sich selbst eingenommenen Autoren gelesen. Von einem Buch, das es 2019 auf die Longlist des Booker Preises geschafft hat, würde ich mir mehr Facetten und Tiefe erwarten.

»Nachts, neben ihr, wenn er denn Zugang zum Bett erhielt, im Natriumdampfduster der Außenbeleuchtung, das durch die Fenster drang, fuhren seine Fingerspitzen sanft über das Mal auf ihrer tätowierten Titte – die Zahl 13. Er wollte ihr Schmerz zufügen. Er wollte ihr widmen, was von seinem Leben übrig war. Sie hatten alten Boden aufgerissen, den sie lieber unberührt gelassen hätten.« (S. 100)

Die Sprache als Kapitän und Steuermann

So schablonenartig die Handlung und Charaktere, so ungewöhnlich und originell ist Kevin Barrys Sprache. Sie steht eindeutig im Mittelpunkt von „Nachtfähre nach Tanger“. Sie treibt uns Lesenden wellenförmig vorwärts, zieht uns mit sich durch die dunklen Gewässer von Charlies und Maurice‘ Vergangenheit. In seiner rhytmischen Struktur ähnelt der Text oft einem Gedicht, liest sich wie Musik. Hinzu kommt Thomas Überhoffs äußerst gelungene Übersetzung, die Kevin Barrys Sprache sicher ins Deutsche transportiert. Vor dieser Leistung habe ich größten Respekt. In den besten Momenten gelingen wirklich wunderschöne Wortgemälde, gerade wenn es um die Sicht auf Irland geht. So wie hier:

»Da wollte er wieder abhauen, aber nun hatte er Wurzeln geschlagen. Scheiß-Irland. Seine lächelnden Schurken. Seine sprechenden Steine. Seine verwunschenen Felder. Sein Meeresgedächtnis. Seine Wildheit und Zerrissenheit. Seine eingefleischte Melancholie und wie sie einen befiel.« (S. 91)

Ja, denke ich bei solchen Sätzen. Ja! Wäre für nur ein Bruchteil so viel Feinschliff in die Charaktere geflossen wie für die stilistische Form, wäre ich von diesem Buch hellauf begeistert gewesen. Dann wäre es mir vielleicht möglich gewesen, deine Verbindung mit Maurice und Charly aufzubauen oder gar Verständnis zu entwickeln. Aber so: nada, auch nicht beim durchaus tragischen Ende. Ob es daran liegt, dass ich eine mittelalte Frau bin und einfach keine Lust mehr habe auf (literarische) Stereotypen dieser vergifteten Form von Männlichkeit? Wenn es in der lesenden Irlandnews-Gemeinde dazu Meinungen gibt, würden sie mich jedenfalls interessieren.

Ansonsten bleiben mir als Trost zumindest eine dichte Atmosphäre, beschrieben in schön gedrechselten Worten.

»Die Boote stachen in See. Die Trawler schipperten ihren Rost durch die Wintersonne. Im Hafen war immer schwer was los. Maurice lebte in einer merkwürdigen Zwischenwelt. Er dachte daran, seinen Wagen ins Meer zu steuern.« (S. 100)

Meine Meinung

Zwei abgehalfterte Ganoven, die mit den wenig überraschenden Auswirkungen ihrer schrecklichen Lebensentscheidungen hadern. Kevin Barry hat das alles meisterhaft und außergewöhnlich erzählt. Sprachlich eine große Empfehlung – ansonsten für mich zu hart am Noir-Kitsch, um mich zu berühren. Auch Verbrecher wünsche ich mir vielschichtiger, zumindest in der Literatur.

 

Nachtfähre nach Tanger

Kevin Barry, übersetzt von Thomas Überhoff
Erschienen im Rowohlt Verlag, 205 Seiten

Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7 für 22 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


Fotos:  Coverfoto Rowohlt Verlag, Titelfoto Ellen Dunne, Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)