»Im Oktober färbten sich die Bäume gelb. Dann wurden die Uhren eine Stunde zurückgestellt, und die Novemberwinde kamen, wehten unablässig übers Land und entblößten die Bäume. In der Stadt New Ross stießen die Schornsteine Rauchschwaden aus, die sich herabsenkten und in haarfeinen, langgezogenen Fäden davonschwebten, bevor sie sich entlang der Kais verteilten, und bald schwoll der Fluss Barrow, dunkel wie Stout, mit Regenwasser an.« (S. 9)

 

Ein gutes Herz in schlechten Zeiten

 

Kleine Dinge wie diese, von Claire Keegan,
übersetzt von Hans-Christian Oeser.

Rezensiert von Ellen Dunne

Sie schleicht sich an, die emotionale Wucht in Claire Keegans Erzählung „Kleine Dinge wie diese“. Zunächst lernen wir das alltägliche Leben von New Ross, einer Kleinstadt in Irlands Südosten kennen. Die Wirtschaftskrise der 80er Jahre erscheint endlos, die Zeiten sind nicht leicht. Wer Arbeit und Einkommen hat, um sich die Kohlen für die winterliche Heizung leisten zu können, schätzt sich glücklich. Und wer es sich wirklich leisten kann, bringt die eigene Wäsche zur Reinigung ins örtliche Nonnenkloster St. Margarets. Dort wird alles besonders sauber. Aber eines Tages macht der Kohlenhändler Bill Furlong bei einer Lieferung an die umtriebigen Nonnen eine verstörende Entdeckung – und steht unversehens vor der Entscheidung zwischen seiner Menschlichkeit und der Zukunft seiner Familie.

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Claire Keegan: eine Meisterin von Kurzform und Erzählung

Claire Keegan gilt in Irland – und inzwischen auch darüber hinaus – als Autorität im Bereich Short Stories und Erzählungen. Bereits ihr erster, 1999 erschienener Kurzgeschichtenband „Antarctica“ den Irischen Rooney Prize of Fiction. Der Durchbruch kam 2010 mit „Foster“ (dt. „Das dritte Licht“), der überaus berührenden Erzählung über ein Mädchen aus einer überforderten kinderreichen Familie und ihren Sommer bei einem kinderlosen Paar, der unter dem Titel An Cailín Ciúin (Ein stilles Mädchen) verfilmt wurde. Trotz der schmalen 88 Seiten wurde die Erzählung eigenständig veröffentlicht. Und auch „Kleine Dinge wie diese“, soeben erschienen im Steidl Verlag, schafft es gerade mal knapp über die 100-Seiten-Grenze. Aber was für Seiten!

„Furlong wusste, dass es das einfachste auf der Welt war, alles zu verlieren.“ (S. 18)

Der angesehene Kohlenhändler Bill Furlong hatte als uneheliches Kind im Irland der 1950er mehr als schlechte Karten. Doch seine Mutter hatte Glück: Mrs. Wilson, eine betagte, betuchte und kinderlose Frau, jagte ihre schwangere Bedienstete nicht davon, sondern nahm sich Mutter und Kind. Jahrzehnte später hat Furlong sich ein respektables Leben erarbeitet, kann es seinen vier Töchtern ermöglichen, die beste Schule der Gegend zu besuchen. Die Nonnen von St. Margarets sind nicht nur mit der Erziehung seiner Töchter betraut, sondern sind auch seine größten, zuverlässigsten Kunden – eine Mangelware im von der wirtschaftlichen Dauerkrise gebeutelten Irland jener Zeit. Und als einer, der stets vom Wohlwollen und der Menschlichkeit anderer abhängig war, weiß Furlong um das Rezept, sich und seine Familie über Wasser zu halten.

»Die Zeiten waren hart, aber Furlong war nur umso entschlossener, sich nicht unterkriegen zu lassen, sich bedeckt zu halten und sich mit den Leuten gut zu stellen. Er wollte sich um seine Mädchen kümmern und dafür sorgen, dass sie vorankamen und ihre Ausbildung in St. Margaret’s, der einzigen guten Mädchenschule der Stadt, abschlossen.« (S. 20)

Claire Keegan by Cartier-Bresson

Eine Entdeckung, die alles verändert

Als Bill Furlong im hektischen Vorweihnachtsgeschäft persönlich eine Lieferung zum Kloster bringt, trifft er im Kohlenkeller eine verängstigte junge Frau, die in der Wäscherei arbeitet und offenbar vor kurzem ein Kind geboren hat. Die Klosterleitung versucht den unliebsamen Zeugen dieser Ungeheuerlichkeiten zunächst mit Lügen zu beruhigen, dann zu bestechen, und schließlich subtil mit der eigenen Macht über Furlongs Unternehmen und Familie zu bedrohen. Als dieser sein Erlebnis schließlich seiner Frau Eileen erzählt, entsteht auch in seiner harmonischen Ehe ein unerwarteter Riss.

Immer tiefer stürzt Furlong ins Dilemma: Soll er sich einreihen in das stillschweigende Ducken seines Umfeldes gegenüber den Machenschaften der mächtigen Nonnen und die junge Frau ihrem Schicksal überlassen? Oder soll er alles, was er sich erarbeitet hat, seine intakte Ehe und eine bestmögliche Zukunft für seine Töchter, riskieren für eine Geste der Menschlichkeit, so wie sie einst auch er erfahren hat?

Ein Gewissenskonflikt, ausgefochten in kraftvoller, reduzierter Sprache

Das Thema der unmenschlichen Behandlung der „gefallenen“ jungen Frauen in Irlands Klosterwäschereien ist schon mehrfach zu Filmen, Reality-Büchern und Reportagen verarbeitet worden. Dementsprechend gespannt war ich herauszufinden, was so eine kurze Erzählung noch zu diesem Kanon beitragen kann. Aber Claire Keegan hat es geschafft, das „irische Thema“ zur Frage an uns alle zu erweitern. Der Frage nach unserer Menschlichkeit und dem Preis, den wir für sie zahlen wollen.

All das in einer aufs Wesentliche reduzierten Sprache, unter deren fast banaler Oberfläche emotionale Stürme toben, zwischen jeder Zeile Dialog ein Absatz Ungesagtes, das diesen Text noch stärker wirken lässt. Allein die fantastisch geschriebene, angespannte Szene zwischen Furlong und der eiskalt verhandelnden Äbtissin ist die Lektüre wert. Und auch das Gespräch zwischen dem Kohlehändler und der alteingesessenen Pub-Besitzerin Mrs. Kehoe macht in wenigen Sätzen klar, wie viel für Furlong auf dem Spiel steht.

»Nehmen Sie’s mir nicht übel, Bill« , sagte sie und berührte seinen Ärmel. »Wie gesagt, es geht mich ja nichts an, aber Sie wissen bestimmt, dass diese Nonnen überall ihre Finger im Spiel haben.«
Da trat er zurück und sah ihr ins Gesicht. »Gewiss haben sie nur so viel Macht, wie wir ihnen geben, Mrs. Kehoe?« »Da wäre ich mir nicht so sicher.« Sie hielt inne und musterte ihn, wie sehr praktisch veranlagte Frauen manchmal Männer mustern: als wären sie gar keine Männer, sondern dumme Jungen. Mehr als einmal hatte Eileen das Gleiche getan.
»Ich meine ja nur« , sagte sie, »aber Sie haben hart gearbeitet, genau wie ich, um dahin zu kommen, wo Sie jetzt stehen. Sie haben eine Familie großgezogen, prächtige Mädchen – und Sie wissen, St. Margaret’s ist nur durch eine Mauer vom Kloster getrennt.« (S. 91)

Meine Meinung

So viel Kraft in einem schmächtigen Büchlein! Kleine Dinge wie diese von Claire Keegan dehnt das in Irland bereits erschöpfend behandelte Thema der Magdalenen-Wäschereien und Mutter-Kind-Heime zur Abhandlung über Schuld und Mitschuld. Eine Frage, die leider aktueller ist denn je: Schauen wir weg, wenn Unrecht passiert, oder übernehmen wir Verantwortung und handeln wir, auch wenn wir berechtigte Angst vor den Konsequenzen haben?

 

Kleine Dinge wie diese

Claire Keegan, übersetzt von Hans-Christian Oeser
Erschienen im Steidl Verlag, 108 Seiten
18 Euro

Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7 für 20 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


Fotos:  Claire Keegan von Cartier-Bresson über Wikimedia, Titelfoto Ellen Dunne, Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)