Harland & Wolff Kräne in Belfast

Wolken ziehen auf über den Kränen der Harland & Wolff Werft, Belfast

»Im April 1998 geschah das scheinbar Unmögliche. Nordirlands politische Parteien einigten sich auf einen Friedensvertrag, welcher den blutigen Konflikt beendete, der die Region die letzten dreißig Jahre gelähmt hatte. Etwa 3700 Menschen hatten ihr Leben während des Blutvergießens verloren, das unter der fürchterlichen Untertreibung, dem Euphemismus “die Troubles” (die Unruhen), bekannt geworden war.« (S. 9)

 

Der Brexit, der Friedensprozess, und andere Baustellen

 

Beyond Brexit: Anmerkungen zum Friedensprozess in Nordirland von Siobhán Fenton,
übersetzt von Katrin Mrugalla.

Rezensiert von Ellen Dunne

 

20 Jahre alt war das oben erwähnte Karfreitagsabkommen, als Siobhán Fentons kritische Bestandsaufnahme über den Nordirlandkonflikt und den von immer wieder blutigen Rückschlägen geprägten Friedensprozess 2018 erschien. Die Autorin selbst wurde 1993 geboren und hat somit keine persönlichen Erinnerungen mehr an das Nordirland vor dem Abkommen. Siobhán Fenton wurde in England geboren und entstammt einer katholisch-protestantischen „Mischehe“, wuchs ab dem dritten Lebensjahr in Belfast auf, studierte und begann ihre Karriere bei BBC in London. Eine nordirische Biografie zwischen allen Stühlen.

Und vielleicht gerade deshalb ist Fenton mit „Beyond Brexit“ eine sehr differenzierte Bestandsaufnahme gelungen, die neben einer angenehm neutralen Sicht auf die Geschichte der Provinz auch jenen Teilen der Bevölkerung eine Stimme gibt, die bisher stets überhört wurden. Und all das auf nur gut 370 Seiten.

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

„Die Troubles“ für Neulinge und Eilige

Ein kompakter Überblick soll ihr Buch sein, stellt die Autorin gleich auf den ersten Seiten klar. Denn was heutzutage als Nordirlandkonflikt bezeichnet wird, also vor allem die Jahre ab 1969, wurde bereits im 17. Jahrhundert gesät. Damals ließ König James I. in Ulster das Land der irischen Bevölkerung konfisziert und an „Herrschertreue“ aus England und Schottland übergeben, die dadurch Privilegien und sozialen Aufstieg genossen.

Diese Siedler:innen waren meist protestantischen Glaubens, die ursprüngliche irische Bevölkerung so gut wie ausschließlich katholisch. Fertig ist das Rezept für einen ebenso komplexen wie explosiven Konflikt, der sehr wenig mit Religion, aber sehr viel mit Identität und Machtpolitik zu tun hat. Der die Insel noch heute beschäftigt und spaltet – dank des Brexits mehr denn je.

»Es kann keine einzige, ausschließliche, definitive, objektive Geschichte der Troubles geben. (…) Dies gilt für jedwede Darstellung der Vergangenheit, die nicht nur durch eine einzige Linse betrachtet werden kann, sondern der man sich am besten annähert, indem man unterschiedliche Berichte, Perspektiven und Versionen berücksichtigt.« 

Das Karfreitagsabkommen – ein unperfekter Vertrag kommt in die Jahre

Neben einer rasanten Fahrt durch Jahrzehnte des Konflikts widmet sich Beyond Brexit auch eingehend dem Karfreitagsabkommen, in dem die Regierungen von Irland, Großbritannien sowie Vertreter:innen der nordirischen Konfliktparteien sich auf einen gemeinsamen Weg zum langfristigen Frieden und das sogenannte „Power Sharing“ zwischen den ehemals verfeindeten Parteien einigten. Ein teils erfolgreiches, aber, so argumentiert Fenton, auch unperfektes Konstrukt, das sich in so einigen Aspekten der Entwicklung von Nordirland zu einem modernen Land im Wege steht, das einer Überarbeitung bedarf, um den Friedensprozess in die Zukunft zu führen.

Siobhán Fenton

Siobhán Fenton

Transgenerationentraumata und das unsichtbare Leid der Frauen

Was Beyond Brexit auch für bereits mit dem Thema weitgehend Vertraute interessant machte: Siobhán Fenton widmet sich Themen, die im öffentlichen Diskurs kaum je Beachtung fanden. Denn der Konflikt hat neben den vielen Toten und Verletzten noch viele weitere tiefe, aber versteckte Wunden in Nordirland geschlagen, die weite Teile der Bevölkerung betreffen.

Fenton selbst wurde als Dreijährige Augenzeugin davon, wie ihre Eltern vergeblich dem Opfer eines Anschlages zur Hilfe eilten. In Beyond Brexit widmet sie sich der Traumatisierung der direkt und indirekt Betroffenen der politisch motivierten Gewalt, und der Weitergabe dieser seelischen Verletzungen an die nächste Generation aufgrund unzureichender oder zu jener Zeit gar nicht verfügbarer psychologischer Betreuung. Dies betraf vor allem auch Frauen, deren emotionale Last im „Machokonflikt“ der Troubles weitgehend unbeachtet blieb. Eine noch immer überdurchschnittliche Selbstmordrate sowie die häusliche Gewalt an Frauen, die insbesondere während der Troubles von jeglicher Hilfe abgeschnitten waren, sind noch immer sichtbare Auswirkungen dieser Traumatisierung.

Ein bemüht ausgewogener Blick auf eine tief gespaltene Gesellschaft

Von der Adresse über die Religion bis hin zu den Namen von Orten und Menschen. In Nordirland hat alles das Zeug zum Politikum. Sogar der Kampf um die Rechte von Frauen und Minderheiten, so wie die Anliegen der LBGTQ-Bewegung, werden von den jeweiligen politischen Parteien vereinnahmt.  Siobhán Fenton, die mit ihrem irischen Vornamen und englischen Nachnamen auch hier einen Fuß in jedem Lager hat, vermeidet demonstrativ, sich auf eine Seite zu schlagen. Sowohl das loyalistische Lager und deren tief verwurzelte Angst des Identitätsverlustes, als auch der immer rücksichtsloser geführte republikanische Kampf um ein vereinigtes Irland werden in ihren Motiven ausgeleuchtet.

Mit Kritik an Boris Johnson und dem traditionellen Desinteresse der britischen konservativen Politik an Nordirland und seiner Zukunft spart die Autorin jedoch nicht. Dass die Autorin laut LinkedIn seit 2020 als Beraterin der Partei Sinn Fein, dem ehemaligen politischen Arm der IRA, firmiert, ist ein nachträglicher Schönheitsfehler, der Siobhán nicht ganz ohne Grund zur Zielscheibe von Kritik macht. Das tut für mich aber dem Wert und der Relevanz von Beyond Brexit keinen Abbruch. Der nordirische Frieden, so viel wird nach der Lektüre klar, ist in Zeiten von Brexit brüchig geworden und liegt derzeit in der Hand von unzuverlässigen Architekten.

Meine Meinung

Beyond Brexit schafft es, einen immens komplexen Konflikt auch Neulingen verständlich und mit frischer Sprache näher zu bringen. Dabei gelingt es der Autorin weitgehend, unparteiisch zu bleiben. Manchmal geht die Breite der Themen auf Kosten der Tiefe und immer wieder überholen trotz eines aktualisierten Anhangs die politischen Entwicklungen von rechts – trotzdem: Ein gutes Buch für alle, die sich einen ausgewogenen Überblick über eine äußerst komplizierte Situation verschaffen wollen.

 

Herzlichen Dank dem Eire Verlag für das kostenlose Rezensionsexemplar.

Beyond Brexit: Anmerkungen zum Friedensprozess in Nordirland

Siobhán Fenton, übersetzt von Katrin Mrugalla
Erschienen bei Eire, 374 Seiten
Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7 für 18,99 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


 

Fotos:  Titelfoto Ellen Dunne, Cover Eire Verlag, Foto Siobhán Fenton (© Jess Lowe), Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)