Studenten am Trinity College-Gelände

»Mein Onkel Billy lebt in einem Wohnwagen auf dem Feld hinter unserem Haus. Als ich zum ersten Mal einen Wohnwagen auf der Straße sah, dachte ich, jemand – ein anderes Kind – hätte ihn entführt. Erst da erfuhr ich, dass Wohnwagen eigentlich dazu gedacht sind, bewegt zu werden.« (S. 7)

 

Fast normale Menschen

 

Snowflake, von Louise Nealon,
übersetzt von Anna-Nina Kroll.

Rezensiert von Ellen Dunne

Die 19jährige Debbie White lebt auf einer Milchfarm in Kildare, der wenig spektakulären  Nachbarprovinz von Dublin. Ihre Mutter seelisch krank, ihr Vater unbekannt, ihr Onkel nur mit Mühe und Hilfe der Flasche fähig, die Farm am Laufen zu halten. Als sie ihr Studium am renommierten Dubliner Trinity College beginnt, findet sie nach anfänglichen Schwierigkeiten in der vordergründig hippen Xanthe eine Freundin. Aber gerade, als Debbie beginnt, Fuß zu fassen in ihrem neuen Leben, gerät das alte auf allen Fronten aus den Fugen – und sie steht vor der Entscheidung, wo und wie sie leben will.

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Louise Nealon: literarische Debütantin mit viel Herzblut

Mit ihrem Roman Normale Menschen wurde die Irin Sally Rooney 2018 zum Shooting Star der internationalen Literaturszene und wurde zum Sprachrohr über das Leben und Lieben der Generation Social Media ausgerufen. Und wie immer nach so einem Überraschungserfolg suchten die Verlage und ihre Marketingabteilungen händeringend nach „der nächsten Sally Rooney“, wurden plötzlich auffallend viele junge irische Autorinnen mit auf den ersten Blick ähnlichen Geschichten veröffentlicht. Louise Nealon ist eine dieser Autorinnen, deren Weg durch Rooneys Erfolg geebnet wurde. Ihr Debüt-Manuskript wurde für eine sechsstellige Summe an Harper Collins verkauft. Zum Glück!

Denn im Gegensatz zu Sally Rooneys für meinen Geschmack oft etwas zu coolen, verkopften und wohlstandsverwahrlosten Charakteren, konnten mich die Aufs und Abs von Louise Nealons „normalen“ Figuren sofort erreichen. Nicht nur, weil die Autorin so einige biografische Eckpunkte mit ihrer Hauptfigur teilt – so wuchs sie selbst auf einer Milchfarm auf und musste ihr Literaturstudium für ein Jahr wegen mentaler Probleme unterbrechen. Es sind die Wärme, der Charme und der typisch irische Humor, mit denen Louise Nealon die Story und ihre Charaktere auflädt, die Snowflake für mich so lesenswert und berührend machen.

»Heute ist mein erster Tag an der Uni, und ich habe den Zug verpasst. Billy war sich ganz sicher, dass ich ihn noch kriege. Er hat zu lange mit dem Melken gebraucht und konnte mich erst danach zum Bahnhof fahren. Also komme ich jetzt zu spät. Wozu, weiß ich allerdings nicht so genau. Ich brauche Freunde, aber bis zum Mittag sind bestimmt schon alle guten weg. Es ist Orientierungswoche, und ich habe Collegefilme gesehen – wenn ich an der Uni meine zukünftige beste Freundin oder meine große Liebe treffe, dann am ersten Tag.« (S. 16)

Louise Nealon, Bild von der Website mare Verlag

Große Dramen, mit typisch irischem Humor erzählt

Dabei bürdet die Autorin ihren teils tragischen Figuren eine Menge Lasten auf. Selbstzweifel, Ängste und allerlei Schicksalsschläge begleiten Debbie durch die Story. Ob depressive Mutter, oder wohlwollender, aber in stiller Verzweiflung trunksüchtiger Onkel – niemand kommt hier ungeschoren davon. Und auch die freundliche Aufgedrehtheit von Debbies privilegierter Hipster-Freundin Xanthe stellt sich als Fassade heraus, hinter der sich die Traurigkeit über eine lieblose Elternbeziehung versteckt.

Dass sich diese teilweise dick aufgetragenen Schicksale so leicht lesen, ist Louise Nealons einfallsreichen und humorvoll irischen Plauderstil zu verdanken, der vor Liebe zu seinen Figuren geradezu überquillt, oft genug schräg daherkommt, aber immer intelligent bleibt.

»Die Therapeutin fragt nach meiner Familie. Ich erwähne die Dauerbeziehung nicht, die meine Mutter mit ihrer psychischen Erkrankung führt, weil ich nicht glaube, dass es relevant für die 2,2 ist, wegen der ich mich für diese Therapiesitzung angemeldet habe. Jetzt erzählt sie mir was über affektive Störungen. Als sie sich auf Angststörungen einschießt, höre ich auf, an den Nägeln zu kauen. Diese Unterstellung widert mich an. Angststörung ist doch nur ein geschwollener Ausdruck für Sorgen machen, und Sorgen machen ist keine Krankheit.« (S. 131)

Snowflake ist ein Debütroman, und das merkt man der Fülle der großen Themen, die Louise Nealon hier anschneidet. Aber der für so viele irische Autor’innen typische Charme und Einfallsreichtum in ihrer Sprache, die schlagfertigen Dialoge und die so treffenden Beschreibungen des Lebens in der irischen Provinz mit all seinen Fallstricken, machen es zu einem großen Lesevergnügen, mit seiner liebevollen Betrachtung der „fast normalen“ Charaktere punktet und weit jenseits des Sally Rooney-Hypes seine eigene Berechtigung hat.

Meine Meinung

Ein warmherziger und originell geschriebener Roman über jugendliche Selbstfindung zwischen irischem Landleben und Dubliner Uni-Atmosphäre, zwischen geborgten Träumen und harter Realität. Perfekte Lektüre für lange Herbstabende.

 

Herzlichen Dank dem mare Verlag für das Leseexemplar!

 

Snowflake

Louise Nealon, übersetzt von Anna-Nina Kroll
Erschienen im mare Verlag, 352 Seiten

Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7 für 24 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


Fotos:  Louise Nealon (© privat), Cover Mare Verlag, Titelfoto Ellen Dunne, Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)