Zwei Tage war ich am Wochenende eingetaucht in die untergegangene Welt irischer Kleinbauern vor 60 und 70 Jahren. Es ist kein Menschenleben her: Die Leute auf dem Land in Nord-Kerry waren arm, sie fuhren auf Eselskarren. Sie hatten in natürlicher Gemeinschaft mit ihren Tieren gelebt – oft unter einem Dach. Die brütende Henne wurde ins Haus geholt und saß unter dem Küchentisch auf den Eiern. Die Farmerin hielt ihre schützende Hand über das Huhn und die werdenden Küken. Laute Geräusche waren an diesen Tagen vor dem Schlüpfen tabu. Hämmern im Haus oder in der Nähe, metallischer Lärm, war verboten – die Menschen fürchteten, die im Ei heranwachsenden Lebewesen mit ihrem Lärm umzubringen.
Die Wegstrecke nach Nord-Kerry zum südlichen Shannon-Ufer ist noch immer dieselbe. Die Fahrzeit auf den vielen neuen Schnellstraßen an der Westküste hat sich in zwei Jahrzehnten fast halbiert. Irland wird in ein gnadenlos autogerechtes Land umgebaut, durch das bald zwei Millionen E-Mobile rollen sollen. Die Straße zwischen den Städten Cork und Limerick wird als nächstes zur Autobahn ausgewalzt. Zehntausende Hektar Landschaft verschwinden für 30 Minuten Zeitgewinn. Beton und Asphalt für zwei Milliarden Euro werden über das Land gekippt. Dazu 50.000 neue Häuser und Wohnungen Jahr für Jahr aus dem Boden gestampft. Die letzten wilden Tiere fliehen in die verbleibenden Refugien. Die grüne wird zur grauen Insel.
Der Hausherr im B&B, in dem ich übernachte, ein hagerer, bescheidener Mann in den 70-ern, blickt sorgenvoll in die Zukunft. Seine normannischen Vorfahren kamen im 12. Jahrhundert mit Strongbow auf die Insel. Sie trugen den Namen „Dem Hirsch ähnlich„. Wir fahren dem Abgrund entgegen, sagt der Mann von Mary. Er sieht den epischen Konflikt zwischen Körper und Seele wüten. Die Körper werden unaufhörlich gefüttert und wachsen in die Horizontale. Die durstige Seele weint. Der Materialismus hat viele Schlachten für sich entschieden. Der Tages-, der Monats-, der Jahresbefehl: Weiter so. Wachsen, wachsen. Immer weiter so. Metastasen wachsen.
Wieder daheim. Ich schaue hinaus aufs Meer. Eine schwarz-weiße Yacht gleitet durch die Bantry Bay. Die Air. Eine Superyacht. 81 Meter lang. Schwimmender Statustempel für zwölf verwöhnte Menschen. Mit eigenem Hubschrauber. Das Lustschiff gehört dem italienischen Zucker-Oligarchen Augusto Perfetti, einem der reichsten Männer Europas. Der Italiener ist der Freund aller Zahnärzte. Er hat seine Milliarden mit den kaputten Zähnen und der Diabetes der zivilisierten Menschen dieser Welt gemacht. Augusto regiert über die Süßigkeiten-Reiche Chupa Chups, Alpenliebe, Mentos. Perfettis Yacht kann man mieten – für 925.000 Euro die Woche und ein paar Nebenkosten: Die Air verbrennt pro Stunde Fahrt bei 25 Km/h bis zu 1000 Liter Diesel. So viel wie 500 Autos. Ich stelle mir vor: Zwölf Menschen fahren in 500 Autos durch die Bucht. Der Wagen des mächtigen gälischen Meeresgottes Manannán Mac Lir donnerte mit einem PS, der magischen Stute Aonbharr, über den Atlantik.
Eine leichte südwestliche Brise weht die Abgase der Air an Land. Es ist der Gestank der Maßlosigkeit. Weiter so. Immer weiter so. Es gibt kein Halten.
Oder doch?
Foto: Markus Bäuchle
Es ist so traurig, was alles – scheinbar unaufhaltsam – passiert……Dabei könnte es so schön sein auf dieser Welt. Hätte ich eine Henne, sie dürfte auch in meiner Küche ungestört brüten. Wir sind schon so weit weg von der Natur, daß wahrscheinlich ein Wunder geschehen muß, damit sich Vieles zum Guten ändert. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Liebe Grüße
Nein, es gibt kein Halten mehr, lieber Markus. Kennst du das Buch „Superyachten – Luxus und Stille im Kapitalozän“ von Grégory Salle?
Ein wirklich beeindruckendes Essay darüber, dass diese Luxusschiffe nicht allein Ausdruck von grenzenloser Mobilität, Umweltzerstörung und ordinärer Geltungssucht, sondern wie kaum ein anderes Kapitalismusgeschwür zum Symbol unserer verkommenen Epoche geworden sind.
Ja, ein gutes Buch, liebe Nicole. Superyachting, die ultimative Demonstration gesellschaftlicher Überlegenheit. Kleiner Auszug: „In einem Artikel vom Mai 2018 wies der Journalist Rupert Neale darauf hin, dass die kumulierten jährlichen Ausgaben für die ungefähr 6000 in Betrieb befindlichen Superyachten die gesamten Schulden der sogenannten“Entwicklungsländer“ tilgen könnten.“ Seitdem hat sich die Ungleichheit weiter verschärft. Die müßige Klasse der Superverschwender sollte sich in ihren exklusiven hypermobilen Sphären allerdings nicht zu sicher fühlen . . .
Die gesellschaftliche und politische Entwicklung, insbesondere der letzten Jahrzehnte zeigt, dass sie sich sehr siche fühlen können…
Stimmt Dieter, und doch bin ich sicher, dass wir den Gezeitenwechsel erleben werden. Die Ära der Disrupteure, der Oligarchen und „Tycoons“, der ungeliebten „Philantropen“ und der 0,1 Prozent, geht in West und Ost zu Ende. Die Gerechtigkeitsfrage wird neu gestellt. Die Yachten werden brennen oder sinken – daran wird auch die braune Brühe, die derzeit die Welt flutet, nichts ändern.