Bundestagswahl 2025

 

Das alte Ritual. An diesem Wochenende wählen die Menschen in Deutschland einen neuen Bundestag. Die Rede ist von einer Schicksalswahl inmitten einer großen globalen Zeitenwende. Hier einige Gedanken über die alte Heimat –  vom irischen Atlantik, aus der unsicheren Distanz von 2000 Kilometern.

 

:: Wir leben seit fast 25 Jahren in Irland am westlichen Rand Europas und haben im Gegensatz zu unseren Kindern nie die irische Staatsbürgerschaft beantragt. Ich habe mich immer zuerst als Europäer verstanden – im kulturell-politischen Sinn und nicht im bürokratisch-machtpolitischen Sinn à la von der Leyen und Co. Bundespolitisch wählte ich als braver Demokrat immer in Deutschland. Auch für die Bundestagswahl am 23. Februar forderten wir die Wahlunterlagen vor vielen Wochen am letzten deutschen Wohnsitz in München an. Wir stellten fest, dass es um Deutschland wirklich nicht gut steht. Was ist los mit einem Land, dass es noch nicht einmal schafft, seinen Bürgern das wichtigste Partizipationsrecht zu garantieren?

Die Wahlbriefe trafen am Montagmittag, sechs Tage vor dem Urnengang ein. Wir schickten sie eine Stunde später zurück auf die Reise nach München. An der irischen An Post wird es nicht liegen. Wir können also wenigstens hoffen, dass die Deutsche Post nicht ganz so verkommen ist wie die Deutsche Bahn und dass sie es schafft, die Wahlunterlagen noch rechtzeitig ins Wahlamt nach München zu befördern. Wissen können wir es nicht. Zigtausende Deutsche im Ausland vor allem außerhalb Europas wissen schon jetzt, dass sie von diesen Wahlen ausgeschlossen sind. Sie haben die Wahlunterlagen noch gar nicht bekommen. Selber schuld, wärt ihr halt mal schön daheim geblieben? Die Regierungen und Verfassungen anderer Länder nehmen ihre Bürger im Ausland ernst. Sie garantieren ihnen die Teilnahme an den Wahlen, richten Urnen in den Botschaften und Sitze im Parlament ein. Was ist bloß mit Deutschland los? Ist selbst das fristgerechte Zustellen von Wahlbriefen jetzt schon eine Überforderung? Vielleicht sollte ich doch bald einen irischen Pass beantragen.

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:: Für den Fall, dass die Wahlunterlagen rechtzeitig eintreffen, habe ich mir wochenlang Gedanken gemacht: Wo die beiden Kreuze setzen? Immer wieder erwäge ich, den Wahlschein von oben links bis unten rechts durchgestrichen zurück zu schicken. Ich fühle mich erstmals in meinem Leben politisch heimatlos, kann keine Wahl aus Überzeugung treffen. Am Ende setze ich zwei strategische Kreuze gegen die Blauen. Dagegen. Aber wofür? Beim Lesen deutscher Leitmedien bleiben viele Fragen. Wo bloß kommen die vielen AfD-Wähler her? Man könnte den Eindruck gewinnen, die gehörten nicht dazu, seien irgendwie vom Himmel gefallen, eine Art politische Aliens. Der Verrat und die Selbstgerechtigkeit steckt in vielen kleinen Sätzen. Der Spiegel schreibt heute morgen: „Die Sorge vor einem weiteren Rechtsruck dürfte auch heute wieder viele Menschen auf die Straßen treiben.“ In der Formulierung steckt die sublime Botschaft: Wir sind die Menschen, wie sind die Guten. Wir wehren uns gegen die Bösen. Wahr ist allerdings: Die meisten AfD-Wähler haben vor nicht allzu langer Zeit noch Mitte gewählt, die SPD, auch die CDU. Demokratien sterben in der Mitte – und nicht an den Rändern. Wir müssen uns das Versagen der Mitte-Partien und ihrer Medienfreunde anschauen, um die Veränderungen zu verstehen.

Wir blicken ohnmächtig auf Europa, das seit Jahrzehnten von den immer gleichen Konservativen der Mitte ohne Legitimation regiert wird. Wir haben uns diese Kommission nicht gewählt und schon gar nicht diese überbordende EU-Bürokratie, die uns unsichtbar bevormundet und uns das Leben schwer macht. Wir sehen Europa in einem kläglichen Zustand der Zerrissenheit, ergriffen von schleichendem Niedergang. Und doch werden wir von dieser EU der politischen Mitte ohne unser Zutun und ohne Einflussmöglichkeiten verwaltet.

In die größte Vertrauenkrise stürzte uns die politische Mitte in den Corona-Jahren mit der totalitären Handhabung der Pandemie. Wir haben verstehen müssen, wie leicht es ist, auch von halb-links einen Notstand zu inszenieren, fast ein Drittel der Bevölkerung auszugrenzen, zu Bösewichten zu stempeln und seiner obersten Freiheitsrechte im Handstreich zu berauben. Wir haben verstanden, wie schnell es mit der Demokratie vorbei sein kann. Wir haben gelernt, was allerwichtigste politische Versprechen („Keine Impfpflicht“) wert sind: Nichts. Haben wir in diesem Wahlkampf etwas von der politischen Aufarbeitung der Coronajahre gehört? Nein. Die politische Mitte war sich einig: Darüber reden wir nicht.

Der Wahlkampf wirkte deshalb aus der Distanz in seiner ganzen Buntheit recht einfältig. All die Kandidatenrunden auf all den TV-Kanälen. Die atemlose Prognosen-Litanei der Wahlforscher. All die Polarisierung, das Brandmauerngeschwätz, die Abgrenzung der vermeintlich Guten von den vermeintlich Bösen. Erschöpfend. Ich denke mir: Wir alle müssen wieder miteinander ins Gespräch kommen, Zuhören, Toleranz und Respekt (nein, nicht die vom Hofnarren-Scholz) neu lernen. Am Ende mag es ziemlich egal sein, ob am Sonntagabend der Olaf, der Fritze oder der Robert den Wahlsieg für sich reklamieren kann. Diese Krise des politisch-gesellschaftlichen Systems sitzt tiefer, als dass sie mit den altbekannten Demokratie-Ritualen gelöst werden würde.

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:: Viele Menschen sind müde. Die uns von oben aufgedrückte Globalisierung des wild zirkulierenden Kapitals hat unser aller Leben in rasendem Tempo massiv verändert. In der Finanzkrise haben wir lernen müssen, dass die Profiteure dieser gesteuerten Entfesselung ungeschoren davon kommen, während der Rest die emetische Suppe auslöffelt. Wir erkennen das eigene Leben nicht wieder, und es gibt kein Halten. Wir werden aufgefordert, die intensiven und rapiden Veränderungen zu schlucken und uns brav anzupassen, während einige Wenige die Disruption weiter anheizen und die Sahne komplett abschöpfen. Viele Menschen sehnen sich nach Ruhe, Stillstand, ja, nach Erlösung. In mir hat sich der tiefe Wunsch fest gesetzt: Ich will mein Leben zurück – und ich bin nicht allein.

Haben wir in diesem Wahlkampf etwas Wesentliches über die Lösung der Probleme gehört, die uns noch mehr bedrohen als die Kriege und der Kampf um eine neue Weltordnung?  Kaum. Naturschutz, Artenschutz, der Schutz der Luft, der Böden und der Meere, der vielen vom Aussterben bedrohten Tiere und Pflanzen, meist zusammengefasst im Schlagwort Klimaschutz, scheinen plötzlich vernachlässigbare Themen von gestern. Dabei bedroht der Niedergang der natürlichen Welt nicht nur den Westen, oder den Osten, nicht nur die Amerikaner, die Russen, die Chinesen oder den globalen Süden: Er bedroht die ganze Menscheit. Jetzt – und massiver noch morgen und übermorgen.

Uns geht es so gut wie nie zuvor, und es geht uns schlecht wie selten. Krisen, Krisen, Krisen, menschen-gemachte Zerstörung überall. Wir haben es nicht gut hin bekommen. Ich habe viele Antworten darauf gelesen, warum die Menschheit, „Krone der Schöpfung“, sich nun mehr und mehr als scheiternde Spezies erkennen muss. Die wahrscheinlich richtige ist, dass wir uns – vor allem in der westlichen Zivilisation – in eine spirituelle Existenzkrise manövriert haben. Wir haben uns die Erde untertan gemacht. Wir sind irgendwann falsch abgebogen auf den schnurgeraden Pfad der praktischen Vernunft. Wir sind aus der Welt gefallen und haben die Verbindung zur Natur verloren. Wir haben die Götter getötet, das Wachstum und den Profit an ihre Stelle gesetzt.

Nun galoppieren wir kapitalistischen Geisterreiter auf Autopilot dem Abgrund entgegen. Wir belügen uns noch eine Weile mit vermeintlichen Weiter-so-Phantasien. In spätestens zwei Jahrzehnten werden auch der letzte Realitäts-Leugner und die letzte Kopf-in-den-Sand-Steckerin an der unbequemen Wahrheit jedoch nicht mehr vorbei kommen. Wir werden kollektiv wissen: Wir haben es vermasselt.

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:: Vieles spricht derweil dafür, dass der selbst ernannte König von Amerika – ein Symptom und nicht die Ursache der Multikrisen – den Kollaps der globalen Systeme massiv anheizt. Der diktatorenfreundliche Brandbeschleuniger und seine Oligarchenkumpanen zerstören gerade die wichtigsten – zweifellos korrupten – bürokratischen Ordnungs- und Steuerungsysteme in ihrem Land und in der Welt. Der britische Journalist George Monbiot überschrieb seine aktuelle Kolumne im Guardian mit den Worten: „Trumps Angriffe auf die Verwaltung können einen systemischen Zusammenbruch auslösen. Erfahren Sie, wie es dazu kommen kann und wie wir uns darauf vorbereiten.“  Die Warnungen vor einer neuen globalen Finanzkrise und vor dem Kollaps der Wirtschafts- und Versorgungssysteme werden lauter.

Wie können wir uns vorbereiten?

Wir können uns zumindest möglichst viel eigenes Leben zurück holen. Wir können unsere Autarkie, unsere Suffizienz und unsere Resilienz stärken – große Worte, gewiss, und auf dem Land abseits der Ballungsgebiete wahrscheinlich leichter möglich als in den Städten. Wir können damit anfangen, uns wieder besser als Menschen zu verstehen anstatt als realitätsflüchtende Konsumenten. Wir können unsere dramatische Abhängigkeit vom Smartphone, von virtuellen Gemeinschaften und von der digitalen Welt überdenken. Wir können unser Verhältnis zu Konsum, Ablenkung und Sucht verändern. Wir können unsere Füße und den Boden darunter vor unserer Haustür wieder würdigen. Vor allem aber können wir an unserem Ort, in unserer Nachbarschaft Netzwerke von Gleichgesinnten aufbauen, in denen wir uns unterstützen und stärken, in denen wir unsere wichtigsten Ressourcen lokal schaffen und verteilen und in denen wir nach den Prinzipien partizipatorischer Demokratie zusammen leben*. Auf diesen kleinen lokalen Inseln können mit unserem Einsatz, unserem Engagement und unserer Liebe für Mensch und Natur die Keimzellen für eine neue Welt entstehen.

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:: Es war nicht der Abfalleimer: Ich habe am Montagmittag die deutschen Wahlbriefe in den grünen Post-Briefkasten in unser kleinen Stadt am Atlantik geworfen – ein Ritual aus altem Pflichtgefühl und ohne große Hoffnung. Das Bewusstsein dafür, dass sich die alte Ordnung auflöst und die Welt, wie wir sie kennen, verschwindet, hat sich durchgesetzt. Wir können das bejammern und beklagen und uns dem Schicksal depressiv ergeben. Wir können weiter davon laufen, in die Ferien flüchten, uns ablenken und betäuben. Wir können aber auch im Kleinen, an unserem Ort, mit unseren begrenzten Mitteln, mit Menschen in unserer Nachbarschaft an einer neuen Welt nach der Zeit der Kollapse arbeiten.

Wir haben damit begonnen.

 

Bundestagswahl 2025

Fotos: Markus Bäuchle; * Murray Bookchin lesen ;-)

 

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