Notizen über einige befremdliche Erlebnisse in der alten Heimat Deutschland, die ich im Oktobersommer wieder einmal mit Auto und Fähre besucht habe.
Die Verkäuferin heißt Frau Fröhlich. Freundlich hätte mir gereicht. Immer diese Kunden. Mir wird klar: Ich bin zurück in Deutschland. Besuch in der alten Heimat. Frau Verdrießlich hinterm Tresen und hinter der dicken Plexiglasscheibe ist in diesen Tagen nicht alleine mit ihrer zweifelhaften Laune. Hier schafft man es spielend, innerhalb der frühen ersten Geschäftsstunde drei Mal dumm angepflaumt zu werden. Die Stimmung im Städtchen meiner Kindheit wirkt latent aggressiv, gespannt, geladen. Vorsicht, explosiv!
Ich spaziere wie früher über den Wochenmarkt und schaue nach bekannten Gesichtern aus alten Tagen. Niemand schaut zurück. Der interessierte Augenkontakt ist aus dem öffentlichen Raum fast verschwunden. Jeder und Jede strebt fokussierten, oft starren Blickes dem eigenen Ziel entgegen. Kann es sein, dass die Augen nach innen gerichtet sind, dass schon wieder der virtuelle Freundeskreis im Smartphone in der Tasche ruft? Oder sind das die Zerstörungen der Pandemanie? Oder bin ich einfach nur übersehenswert alt geworden?
Ich bleibe neben einem Bettler stehen. Bettler, darf ich das eigentlich noch denken und sagen? Oder ist das nun ein um Transferleistungen bittender Mitmensch? Der gehbehinderte Mann streckt mir seine Kappe entgegen, murmelt etwas von Ukraine. Ukraine = (immer noch recht) symapthisch. Macht ökonomisch Sinn. Vorbei die Zeiten, als er noch den Ball jonglierte, um sich sein Geld zu verdienen.
Ich gebe dem falschen Ukrainer zwei Euro. Ein Mitfünfziger, der daneben steht, zeigt mir den Vogel und fragt mich ungeniert, ob ich blöd sei. Diesen Leuten gebe man kein Geld. Einem Ukrainer aber schon? frage ich zurück. Der Mitfünfziger dreht mit rotem Kopf ab.
Sein Gesicht leuchtet wie eine Ampel bei Rot
A propos roter Kopf: In einer verkehrsberuhigten Hauptstraße im Nachbarstädtchen kommt mir an einem künstlichen Engpass bei Tempo 20 ein Radfahrer entgegen. Der Schwarzbehelmte könnte mit seinen zwei Brüdern im Schulterschluss an mir vorbei fahren. Doch offensichtlich steht ihm der rechtsgesteuerte Wagen zu weit vom rechten Straßenrand entfernt. Er schwingt wütend die Faust in meine Richtung, brüllt mir Unflätiges entgegen; sein Gesicht leuchtet wie eine Ampel bei Rot. Ich bin heilfroh, dass der zornige Fuchtler nicht vom Rad fällt.
Zugegeben, in Irland fährt man etwas lässiger Auto. Kommt ein Fahrzeug im Eifer des Verkehrsgefechts einmal mitten auf einem Zebrastreifen zum Stehen, gehen die Fußgänger einfach darum herum, ohne emotional zu kollabieren. Man bleibt leicht und locker, frau auch.
Als ich in der Stadt offensichtlich etwas zu nah an den Zebrastreifen heranschleiche (Tempo 30), rastet eine noch junge Fußgängerin vor meinen Augen aus. Sie schreit: „Was willst Du, Du Ar…..ch!“ und deutet einen Tritt ans Auto an. War das jetzt vielleicht schon sexuelle Belästigung? Das Auto, aggressiver Ausdruck meiner männlichen Dominanz . . ?
Ich durchlebe ein Flashback. Bei einem der letzten Besuche in der alten Heimat bin ich irisch salopp auf einem großen übersichtlichen Parkplatz zehn Meter gegen den blassen Pfeil gefahren, um eine 100 Meter lange Schleife zu vermeiden. Drei Männer und eine alte Frau rotteten sich zu einem schreienden Mob zusammen, um meinen Fahr-Frevel zu ahnden. Ich saß im abgeschlossenen Auto und machte mir Sorgen.
Ein Volk sucht nach Gelassenheit. Ist es die allgemeine Unsicherheit, die Angst vor der Zukunft, vor Krieg, Klimakollaps, Artensterben, Nahrungsmangel, vor Inflation, sozialem Abstieg, Arbeitslosigkeit und Kälte, die sich in Wutausbrüchen und emotionalen Eruptionen Bahn bricht? Ich mache mir Sorgen.
Der innere Optimist interveniert: Wahrscheinlich habe ich nur eine schlechte Woche erwischt. Wahrscheinlich war es einfach Zufall, oder fünf Grad zu warm in diesem Oktobersommer. Vielleicht waren die Menschen irritiert, dass ich im Auto auf der falschen Seite sitze? Wahrscheinlich habe ich die schlechten Erfahrungen angezogen, weil ich so lange schon nicht mehr hier lebe? Wahrscheinlich will ich mir meine Wahlheimat schön reden . . . ?
Ein Fremder im eigenen Land?
Ich bin ein wenig ein Fremder im eigenen Land geworden. Ich scheitere regelmäßig an Routinen, habe meine Alltagskompetenzen woanders weiter entwickelt. Der Flaschen-Annahmemann ist verschwunden und ich weiß nicht, wie man den Flaschen-Pfandautomaten bedient. Dass die Flasche immer wieder an mich zurück gespielt wird, verschafft mir die Ehre einer strengen persönlichen Belehrung durch einen wartenden Fachmann (Wir sind alle Bundes-Flaschenabgeber), der mein Unvermögen sofort seziert hat.
Kardinalvergehen: Ich scheitere in der Königsdisziplin des umweltbewussten Deutschen, weiß nicht genau, wie man den Müll säuberlich trennt. Nein, der Karton gehört nun wirklich nicht in den gelben Recycling-Sack. Ja aber in Irland . . . Nix Irland, hier Deutschland. Meine Liste zum Auswendiglernen. In den Gelben Sack gehören nicht:
„Altkleider, Babyflaschen, Blechgeschirr, CDs und Disketten, Damenstrumpfhosen, Elektrogeräte, Essensreste, Einwegrasierer, Faltschachteln, Feuerzeuge, Filme, Glas, Holzwolle, Hygieneartikel, Katzenstreu, Keramiktöpfe, Kinderspielzeug (Holz/Kunststoff/Blech), Klarsichthüllen, Kugelschreiber, Luftmatratzen, nicht geleerte Verpackungen, Papier, Pappe/Karton (!!), Pflaster und Verbandmaterial, Porzellangeschirr, Styroporreste, z.B. Dämmmaterial, Tapentenreste, Taschentücher aus Papier, Videokassetten, Windeln, Zahnbürsten, Zelte, Zigarettenkippen.“ Uff.
Klar jetzt? Ganz ehrlich: Mir ist das mittlerweile völlig egal, weil keine zehn Prozent des mühsam Getrennten wirklich recycelt werden, weil der Großteil des Mülls verbrannt wird oder irgendwo in Südostasien in der Landschaft landet. Und doch mache ich mir Sorgen.
Ich weiß nicht mehr, ob und warum ich die Heimatzeitung lesen soll, die ich einmal selber mitgeschrieben und mitverantwortet habe. Das mag nach all den drastischen Einsparungen an der mittlerweile minderen Qualität der Zeitung liegen, einer nach Druckerschwärze riechenden Ödnis, einer Ansammlung von Belanglosigkeiten. Oder ist nur mein Interesse abhanden gekommen?
Selbst die Muttersprache muss ich neu lernen. Die heiß geliebte Wanderwelt kennt keine Wanderwege mehr, wir wandern jetzt nur noch auf „Steigen“. Der Superlativ wird zur neuen Normalität. Belchensteig. Überall Steige.
All die vertrauten regionalen Grußformen sind vergessen. Kein einziges „Solli“ oder „Salü“, nicht ein „Adje“ oder „Adjöö“ wird erwidert, statt dessen nur noch öde Haallos, die von Frauen mit Betonung auf der ersten Silbe und mit immer gleicher, hoher Kopfstimme geflötet werden. Ich meine, die schrille Heidi Klum zu hören und sehe die Sehnsucht all der unentdeckten Models an Ladenkassen und hinter Bäckereitheken. Und nein, ich werde niemals „Tschü-üüss“ trällern.
Ich mache mir lieber Sorgen. Vielleicht nur, weil ich alt werde und aus der deutschen Echtzeit herausfalle.
Dabei habe ich gerade den aktuellen Eignungstest in deutscher Staatsbürger-Tauglichkeit mit Bravour und ganz vorne in der Ausreißergruppe bestanden: Ich habe die Grundsteuererklärung auf „Elster“ mehr als fristgerecht in etwa 30 Minuten ausgefüllt und damit meinen wunderbaren Beitrag zur Digitalisierung der deutschen Staatsbürokratie geleistet. Erbarmen! 🙃
So erschütternd es ist, so wichtig ist es auch, diese Beobachtungen mit uns zu teilen. Und leider kann ich sie – mein ganzes 65-jähriges Leben in Deutschland lebend – mit zunehmender Tendenz bestätigen. Vorsicht vor Ansteckungsgefahr!
Wie wohltuend und stärkend waren dagegen meine menschlichen Begegnungen auf Cape Breton im Osten Canadas. Ja, es geht in der Tat auch anders!!!
Hallo Markus,
ich lebe in Deutschland und treffender kann man Deutschland leider nicht beschreiben. Wobei ich trotzdem schmunzeln musste, weil es so lustig geschrieben ist. Ich gebe Gabi Recht, eigentlich sollte man in diesen Zeiten eher zusammenrücken.
Für mich ist Irland eine komplett andere Welt und Gott sei Dank gibt es sie. Ich bin mindestens 3-4 mal im Jahr in Irland um meiner Seele Erhohlung zu gönnen.
Danke für diesen so treffenden Artikel.
Du beschreibst genau meine Erfahrungen in der Öffentlichkeit bei meinem letzten Aufenthalt dort.
In meiner Erinnerung gab es früher dort auch viele nette, kurze Begegnungen, bei denen man sich in die Augen schaute und einfach ein paar nette Worte austauschte. Vor 3 Jahren war davon in Kleinstädten nix mehr zu spüren. Schade!
@Stephan: kann ich nachvollziehen! Zum Glück gibts hier in der Gegend noch ein kleines bisschen Wald – zB Coole Park oder Dromoland Woods. Die jedoch kein Vergleich mit den grossen., alten Wäldern in BRD sind.
Fascinating observations Markus, thank you for the thoughts! As you know, I recently moved back to Germany after almost 30 years in the English-speaking world. (One of these days I’ll be able to switch back to German when writing a quick and flowing response … it will happen.)
I find that in this neck of the woods (Schleswig-Holstein), a friendly ‚Moin!‘ while walking the dogs, is not at all uncommon, no matter what time of day it is. Maybe the dogs make the difference? But certainly, there are some grumpy people up North too … I was having breakfast with a family friend this morning, who has lived all her life in northern Bavaria and self-described her fellow Oberpfälzer, as incredibly impersonal, and described exactly what you observed in terms of the avoidance of eye contact – and the pandemic has only made it worse, she thought. I think at least some regional differences are a factor. Over recent weeks I had to make so many phone calls to numerous offices while establishing a life here and just last week I commented to my husband about how amazingly friendly people were on the phone, I was genuinely taken aback.
I find it to be a fascinating experience to be a stranger in my own country (or is it really my own country if I have spent 2/3 of my life outside the country?). Albeit it can be equally as nerve-wracking, stressful, scary, and at times, infuriating – in those moments I am thankful for my husband’s positive attitude: Nothing good ever comes easy.
I never thought I would return, until on a trip through Germany in 2017 I read a book entitled ‚Germany – Memories of a Nation‘ and for the first time I thought to myself – it could be an interesting country to return to someday so I could finally get to know it. And as I am back here, interestingly enough, I am getting to know myself better too – I was a teenager when I left, so I certainly lacked a comprehensive understanding of myself back then. My American husband, who has embarked on this adventure with me, is observing the culture here from a complete stranger’s perspective and will from time to time make comments like: Now I finally understand you better! – I guess it is my country …
Let’s see how long we are able to enjoy life here, I still hope to ‚end up‘ back in Ireland someday! For now, I am certainly thankful I am not in the Ukraine or many, many other places on the planet …
Hab den Artikel mit Spannung erwartet und er ist so interessant wie erhofft geworden. Da in Österreich (je nach Region) tendenziell auch etwas mehr laissez affair bzw. auch weniger Direktheit herrscht als in Deutschland, habe ich das so noch nicht wahrgenommen. Allgemein stelle ich aber fest, dass die Bereitschaft, einen „common ground“ mit dem Gegenüber zu finden und ihm/ihr wenn nicht eine gute, dann zumindest keine böse Absicht zu unterstellen, spürbar abgenommen hat. Ich denke, da hat die von Anonymität und Trollen beeinflusste Diskussions“kultur“ von fb, twitter & co nun doch auch die Wirklichkeit erreicht, zumindest im öffentlichen Raum. Einerseits gab und gibt es viele emotionale und polarisierende Themen, andererseits scheint jedes Thema, jede abweichende Meinung schon grundsätzlich als persönlicher Angriff gewertet zu werden. Vielleicht also das Problem der immer narzisstischeren Gesellschaft? Aus der Therapie gibt es außerdem diese Erkenntnis, dass wir uns im Stress meist auf unsere leider oft destruktiven, aber gelernten Muster zurückziehen. Sprich, Kontrollwahn, Misstrauen den anderen gegenüber, etc. Vielleicht auch das eine Erklärung. Denn dass man beim medialen Dauerfeuer von Angst und Schrecken und Gefahren nicht in Stress gerät, kann ich mir kaum vorstellen. Das scheint mM nach in deutschsprachigen Ländern ebenfalls verbreiteter zu sein als zumindest in Irland.
Persönlich habe ich aber überall gute Erfahrungen gemacht, wenn man aktiv mit dem Lächeln und der Freundlichkeit anfängt, einfach ohne Grund, breitet sich auch das aus. Vielleicht nicht bei Frau Fröhlich, aber bei vielen anderen. Versuche es also immer wieder. Im Kleinen.
Unglaublich toller Post, besten Dank für die Impulse;)
Ludwig
Hallo Markus,
traurig und wahr……Menschen maßregeln zunehmend andere Zeitgenossen mit einer Rechtfertigung, die ihresgleichen sucht. Da wünsche ich mir oft das laissez-faire eines Italieners, Franzosen oder Iren und natürlich auch einer Italienerin, Französin und Irin.
Wenn ich die Menschen mit offenem Blick anschaue, eine Eigenschaft, die ich trotz Pandemie und Social Media nicht verloren habe, kommt hin und wieder ein schöner Kontakt zustande, so geschehen am vergangenen Donnerstag. Das sind dann die „Stern-Minuten“ für mich.
So long Moni
Bravo Markus!!!
Noch früh am Morgen und einiges nördlicher als der Schwarzwald erheiterst Du gerade mein Novembergemüt..
Dein „Heimat-Beitrag“ trifft so was von Schwarze! Ich dachte, der nach innen gerichtete Blick, der schnodderig-unfreundliche Ton, die latente Aggression in der Luft, lägen an Berlin. Aber wenn’s im Ländle auch schon so frostig ist, dann stimmt etwas nicht mehr. Die Menschen scheinen sich an der äußeren Ordnung festhalten zu müssen, weil die innere gerade verloren geht. Ängste, reale und irrationale, eine immer komplexer werdenden Welt, ein verstörender, bedrohlicher Krieg, der hier sehr nah ist. Eigentlich Gründe um zusammen zu rücken…
Erheitert hat mich Deine Sprache und gut, dass Du als „Draufgucker“ schreiben kannst. Ich bin Teil dieses Ganzen und verstehe immer besser, weshalb Irland zwei Mal im Jahr nötig ist, um mich zu stabilisieren und die Batterien für die nächste Runde Deutschland aufzuladen!
Sei gegrüßt
gabi
Ich musste gerade über zwei Monate in Deutschland verbringen. Vieles kann ich bestätigen, auch und gerade den Bürgerkrieg auf der Strasse. Allerdings durfte ich auf dem Land noch überraschend viel Freundlichkeit erfahren, auch auf Behörden. Das grösste „Problem“ aber: Ich konnte – bis auf den Wald – keine Gründe entdecken, dort dauerhaft leben zu wollen.