
Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .
Ich habe in den vergangenen drei Wochen einen freiwillig verordneten Crash-Kurs zum Laien-Virologen absolviert. Ich weiß den Unterschied zwischen dem Namen des Teils und der Krankheit als solcher, die es auslöst. Ich kann einen Ted Talk darüber absolvieren, was das Teil in der Lunge anrichtet, ich kann Szenarien aufsagen, was in den kommenden Wochen und Monaten in Deutschland, Irland, den USA oder hinter unserem Haus passiert – ohne es wirklich zu wissen.
Ich kann in R(0) rechnen und verstehe, dass „zwischen 60 und 70 Prozent“ zwei von drei Neuansteckungen bedeutet, die es im Moment zu unterbinden gilt. Ich unterscheide jetzt zwischen Todesfällen, Letalität und Mortalität, auch wenn es die Toten an Ostern nicht zurück bringt ins Leben. Dass wir die Kurve abflachen müssen, ist mir immer schon ein Bedürfnis gewesen, weil ich den Ball gerne flach halte. Ich weiß jetzt so viel mehr, und bleibe doch blutiger Laie. Deshalb gilt für mich sehr frei nach Wittgenstein: Maul halten. Wovon man nicht reden kann, darüber soll man schweigen.
***
Privilegierte und Ausnahmezustand. In meiner einigermaßen privilegierten Situation der Abgeschiedenheit am westlichen Rand Europas sehe ich das Leiden vieler Menschen, die nun festsitzen in einer Zweidreizimmerwohnung mit ihren Kindern, Partnern und all ihren Problemen. Ich sehe die Menschen, die gewaltig unter Druck stehen, ihre Existenz zu verteidigen. Die um Ihren Lebensunterhalt kämpfen. Ich erlebe kein persönliches oder familiäres Leid und lebe abseits vom Leiden und Sterben in Irlands Krankenhäusern und Pflegeheimen.
Dennoch sehe ich die Menschen, wie meine Schwester, die im öffentlichen Raum, oder dem, was davon übrig ist, Dienst tun und allzu oft dabei ihre eigene Gesundheit riskieren – sei es an Lebensmittelregalen oder an Kranken- und Pflegebetten. Ich empfinde Dankbarkeit und großen Respekt. Ich bete für sie (in religionsfreier Weise), dass sie in ihrer Kraft bleiben und die gewaltigen Belastungen möglichst unbeschadet durchstehen.
Manche der vielen Privilegierten, die im fein eingerichteten Nest gerade um ihr Wohlstands-Niveau fürchten, könnten derweil einmal über ihre Weinerlichkeit und ihre verloren gegangene Robustheit nachdenken. Die große Illusion hat gerade ein Ende. Die Vorstellung, dass immer alles gut ist, dass sich nichts ändert, dass Zufall, Unberechenbarkeit und Schicksal endgültig abgeschafft sind: Perdu. Die große Illusions-Blase ist geplatzt.
Wir stehen unter Realitäts-Schock. Das ist plötzlich Leben live – ohne Ablenkung und doppelten Boden. Das Ende der Simulation. Ist wirklich alles, was uns jetzt einfällt, der Hilferuf, möglichst schnell zur Normalität zurück zu kehren? Die von uns so genannte Normalität war eben keine Normalität, sondern ein lange ausgedehnter Ausnahmezustand, der uns an den Rand der Existenz geführt hat.
Wir haben jetzt ein paar Wochen Zeit aufzuwachen. Eine nachdenkliche Karwoche, Aufwachen an Ostern!
***
Hinterm C gehts weiter. Nein, keine Visionen von der Zukunft. Nur soviel: Hinterm Horizont gehts heftig weiter. Das wird nicht gemütlicher, das wird nicht einfach wieder normal. Welt-Wirtschaftskrise ist wahrscheinlich kein zu großes Wort. Doch selbst das bleibt nur Denken innerhalb des sogenannten Normalen. Die wirklich großen Veränderungen werden außerhalb dieser angenommenen Normalität geschehen. Die Welt-Naturkrise bahnt sich seit Jahrzehnten an und nimmt immer mehr Fahrt auf. Noch immer aber nehmen wir sie nicht ernst.
Ich lese gerade das neue Buch All You Need is Less von Niko Paech, dem bislang einzigen Postwachstums-Ökonomen Deutschlands mit einer Professur. Paech hat All You Need is Less (20 € beim sozialen Online Buchhandel Buch 7) zusammen mit Manfred Folkerts geschrieben, einem klugen Mann, der den Deutschen seit Jahrzehnten den Buddhismus frei von Religion und Esoterik erklärt – und der in den Lebenslehren Buddhas das Potential für eine globale Ethik einer humaneren Welt sieht. Manfred Folkerts schreibt:
Die Menschheit sägt an den Ästen, auf denen sie sitzt. Ihre Handlungen gefährden das System ihres Zusammenlebens, wenn nicht sogar die Fundamente ihrer Existenz . . . Ohne eine grundlegende Wende naht ein böses Ende, das von (sehr) vielen Menschen zumindest geahnt wird . . . Vor diesem Hintergrund sind meine Überlegungen zu einer „Kultur des Genug“ entstanden.“
Aus den Einsichten und Lehren Buddhas entwickelt Folkerts eine Ethik zur Überwindung der Gier-Wirtschaft und zum Aufbau einer Postwachstumsgesellschaft. Das Buch All You Need Is Less erschien am 17. März und wusste nichts von unserer aktuellen Weltlage. Folkerts schrieb:
„Wenn die einzelnen Menschen diesen Wandel nicht selber vollziehen, werden sie bald durch unbeherrschbare Umstände dazu gezwungen. Statt wollen ist dann müssen angesagt, Wenn wir uns nicht ändern, werden wir geändert. Die viel beschworene und notwendige Transformation erfolgt dann by disaster und nicht by design.“
Die Erde hat ein toxisches Virus: Uns
Das Schlusswort im Alle-paar-Tage-Buch hat einer der klügsten Köpfe Irlands, Fintan O`Toole, der sich heute in der Irish Times Gedanken über die wirklich dramatische Herausforderung unserer Zeit macht:
„Die Erde hat ein toxisches Virus: Uns“.
O’Toole wertet die aktuelle Studie Behaviour & Attitudes (Haltungen und Verhalten) über die irische Gesellschaft aus. Er stellt fest (von mir zusammengefasst):
- Aus Sicht der Erde sind wir das toxische Virus. Würden wir verschwinden, würde sich die Erde rasch erholen. Wir müssen einen Weg finden, den Wirt, den wir bewohnen und infizieren, nicht umzubringen.
- Im Angesicht der aktuellen Virus-Krise tun wir plötzlich das Richtige, allerdings aus den falschen Motiven. Die Erde erholt sich gerade von uns und unserem Wirtschaften. Wir fahren die Ökonomie allerdings nur herunter, um uns selber zu retten.
- Die Bedrohung durch das Klima ist in Wirklichkeit viel größer: Die Zivilisation kann durch das Virus beeinträchtigt werden, aber sie wird durch die rasante globale Erwärmung ausgelöscht werden. Dies ist seit den 1980er Jahren bekannt, doch es wurde relativ wenig getan, um es aufzuhalten.
- Die große Frage ist: Was ist nötig, damit wir unseren kollektiven Geist auf diese langsamere, aber tiefgreifendere existenzielle Bedrohung konzentrieren können?
- Sieben von zehn Irinnen und Iren sind „extrem besorgt über den Zustand unserer Umwelt“. Dennoch ist Irland im Klimaschutz und Naturschutz bislang völlig untätig und im internationalen Vergleich ein Schlusslicht.
Fintan O`Toole hat spannende Antworten, wie die Transformation gelingen könnte und erhofft sich Rückenwind von unseren aktuellen Erfahrungen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Mehr darüber demnächst im Alle-paar-Tage-Buch.
Einen gelingenden Palmsonntag!
***
Auch das noch: Treffen sich zwei Planeten. „Wie gehts?“ fragt der eine. „Nicht sehr gut. Habe Home sapiens“ antwortet der andere und erfährt Trost: „Keine Sorge, das geht vorbei . . . “
***
Cartoon mit Dank an Statistically Insignificant. Foto: Markus Bäuchle; Vignette: Eliane Zimmermann
…danke für die wieder sehr gelungenen Zeilen und Sicht auf die Dinge.
Euch allen frohe Ostern!
Herzliche Grüße aus Berlin
Andreas
Liebes,schönes grünes Irland,die Zeilen erfreuen mich ,auch ich schätze Andre Heller sehr,durch ihn fühle ich mich auch als 57 jährige Frau schön und begehrt.Andre Heller und Erika Pluhar waren beide bei der Moderatorin Stöckl eingeladen,zum Schluss bekam Frau Pluhar die Frage gestellt obsie sich im Alter mit ihrer Schönheit befasse,Frau Pluhar war peinlich berührt,perplex,Andre Heller antwortete darauf ehrlich und charmant,willst du nicht sagen dass auch eine welke Rose schön ist.
Ich empfinde das als ein Kompliment.Manche Frauen und Männer empfinden es als Beleidigung,eine welke Rose ist schön.Da sieht man dass die innere Schönheit von Andre Heller dominiert.
Ich freue mich auch über die alle paar Tage Berichte aus Irland.
Es stimmt mich traurig dass so viele Erkrankungen und dadurch natürlich auch Existenz Ängste Irland heimsuchen.
Ich denke und hoffe dass es Globalweit sukzessive wieder aufwärts geht.
Es werden dann wieder Touristen und Studenten nach Irland reisen ,es gibt ja kein Reiseverbot.
Wichtig ist dass Alle noch ein wenig Geduld haben die Massnahmen leben.
Es muss schön sein die Landschaft erkunden zu dürfen,neues zu entdecken und die Natur bewusster wahrnehmen zu dürfen.
In Vorarlberg Österreich,sind wir auch noch nicht über den Berg,sukzessive werden die Menschen auf das sogenannte normale Leben vorbereitet,mit Mund Nasen Schutz,Abstand halten und vorraussichtlich bis Juni keine Veranstaltungen.
Schubertiade wurde abgesagt.
Ein 92 jähriger Mann war infiziert und ist genesen,2Test waren danach negativ das hat mich gefreut.Ich habe irisches Teegebäck gebacken fotografiert und Alle virtuell eingeladen.
Ich spiele Kalimba das beruhigt die Seele das Instrument gibt schöne warme Klänge von sich.
Ich wünsche Irland das viele Iren genesen,es ist doch Deutschland nah an Irland vielleicht kann es einige Patienten aufnehmen.
Auf ein baldiges Schreiben freut sich Andrea Jilek aus Vorarlberg Österreich,Frohe Ostern, Bleibt Gesund!
Hallo Markus,
Auch von mir ein herzliches Dankeschön für deine Berichte! Du sprichst bzw. schreibst mir von der Seele!!! Dass Dir nicht mehr jeden Tag danach zumute ist über die C Situation zu schreiben kann ich gut nachvollziehen, aber mach’s halt trotzdem hin und wieder bevor’s jemand anderes tut und es dann nix wird! ? . Übrigens die Vorstellung mit Hilfe der Kettensäge das meiste aus den 2km rauszuholen war sehr amüsant … aber Boot oder Kajak ?wäre für dich ja evt. Auch noch ne Alternative? Weniger Arbeit und vielleicht treffen wir uns dann ja sogar mal. Greetings from down the road!
Hallo Markus,
ich wollte einfach mal Danke sagen.
Eure Beiträge sind für mich
jedes mal ein Highlight. In 1 oder 2 Jahren wird mich Irland auch wiedersehen. Liebe Grüße und stay safe
Friedhelm
Liebes Irland,schöne grüne Insel,ja,es hat Globalweit niemand was gemacht was den Klimawandel anbelangt,und die wenigen Menschen die bewusst im Einklang mit der Natur lebten war und ist ein Tropfen auf dem heißen Stein,die Menschen die sich positiv einsetzen, hinterfragen werden belächelt und als Spinner abgetan.
Die Natur erholt sich langsam.
Und jeder hat seine Vorbilder ,Denker,manche haben keine ,ich finde Alle Menschen sind Laien,lesen ist Denken mit fremden Gehirn.
Manche können das Wort C nicht mehr hören und andere das Wort V.
Alle sind überfordert mit der ganzen Situation.
Manche versuchen durch Humor Menschen beizustehen,was diejenige garnicht als Humor oder Entlastung empfinden ,
Mir hilft Klassik, trotzdem gibt es Stunden wo ich verzweifelt bin wie Viele .
Alles kann richtig oder nicht richtig sein einem helfen oder auch nicht.
Ich warte jeden Tag auf diesen Beitrag aus Irland das gibt mir Kraft,warum auch immer ich kann es nicht erklären.
Ich wünsche Allen ,auch wenn es manche nicht mehr hören können das wir die Krise überstehen ,das viele Genesen.
Liebe Grüße nach Irland ,
Andrea Jilek aus Vorarlberg Österreich
Klingt vielleicht pervers und absolut nicht mainstream aber ich finde die Situation im Moment sehr spannend, wenn nicht sogar hoch interessant. Liegt aber auch daran, dass es mir gut geht, denn ich hatte es schon Anfang Februar und bin wieder einigermaßen fit. Muss sagen, dass ich lange nicht mehr so krank war, mit fast vierzig Grad Fieber. Fühlte mich als wäre ich von einem Lastwagen überfahren worden. Bin immer noch nicht 100% fit aber ich schlage mich munter, mache jeden Tag Mucke uff‘ de Gass‘ und verdiene Geld. Das Schöne dabei ist, dass ich zur allgemeinen Aufheiterung beitrage, gegen die Depression, obwohl immer wieder besorgte Bürger bei der Polizei anrufen und sich über „Menschentrauben“ beklagen, wenn ich spiele. Dabei ist das gar nicht so, weil die Leute wissen was sich z.Zt. gehört und ordentlich Abstand halten. Uns geht es auf jeden Fall gut. Mein Schatz geht jeden Morgen mit den Hunden joggen und will mindestens 6 kg abnehmen. Uns geht es auch deshalb gut, weil wir keine Ausgangsbeschränkungen haben wie in Bayern oder Baden Württenberg. Generell muss man sagen, dass Deutschland neben Schweden das laxeste Krisenmanagement hat. Mit einfachen Worten: wir sind alles andere als deprimiert, hysterisch oder ängstlich. Dabei arbeitet meine Süße als Krankenschwester in der Altenpflege! Wir stehen der mainstream-Berichterstattung sehr kritisch gegenüber, ich sowieso. Bin mal gespannt, wie es weitergeht, ob die Lage sich nach dem 20. April entschärft oder ob der Ausnahmezustand verlängert wird. Gegen besseres wissen hoffe ich inständig, dass sich die politische Situation nach C drastisch verändert, damit der Wahnsinn, den wir schon 15 Jahre lange vor C haben, endlich ein Ende hat. Sollte das passieren, werde ich ein Loblied über C schreiben! In diesem Sinne, es grüßt die Spinne :)