Irland C4. April 2020, Samstag.

 

Irland Corona

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .

Laien-Virologen sollten schweigen. Ihr habt es sicher gemerkt. Der Überdruss führte zum zwischenzeitlichen Schweigen. Aus dem Tagebuch wird ein Alle-zwei-drei-Tage-Journal. Ich kann das allgegenwärtige C-Wort nicht mehr hören – genauer: nicht mehr lesen. Denn das bisschen, was ich sehe und höre, das lese ich in der Regel. Ich habe mich über-lesen. Leide unter vollem Hirn und mentalen Blähungen. Deshalb heute kein Wort von C. Nicht eines.

Ich habe in den vergangenen drei Wochen einen freiwillig verordneten Crash-Kurs zum Laien-Virologen absolviert. Ich weiß den Unterschied zwischen dem Namen des Teils und der Krankheit als solcher, die es auslöst. Ich kann einen Ted Talk darüber absolvieren, was das Teil in der Lunge anrichtet, ich kann Szenarien aufsagen, was in den kommenden Wochen und Monaten in Deutschland, Irland, den USA oder hinter unserem Haus passiert – ohne es wirklich zu wissen.

Ich kann in R(0) rechnen und verstehe, dass “zwischen 60 und 70 Prozent” zwei von drei Neuansteckungen bedeutet, die es im Moment zu unterbinden gilt. Ich unterscheide jetzt zwischen Todesfällen, Letalität und Mortalität, auch wenn es die Toten an Ostern nicht zurück bringt ins Leben. Dass wir die Kurve abflachen müssen, ist mir immer schon ein Bedürfnis gewesen, weil ich den Ball gerne flach halte. Ich weiß jetzt so viel mehr, und bleibe doch blutiger Laie. Deshalb gilt für mich sehr frei nach Wittgenstein: Maul halten. Wovon man nicht reden kann, darüber soll man schweigen.

 

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Privilegierte und Ausnahmezustand. In meiner einigermaßen privilegierten Situation der Abgeschiedenheit am westlichen Rand Europas sehe ich das Leiden vieler Menschen, die nun festsitzen in einer Zweidreizimmerwohnung mit ihren Kindern, Partnern und all ihren Problemen. Ich sehe die Menschen, die gewaltig unter Druck stehen, ihre Existenz zu verteidigen. Die um Ihren Lebensunterhalt kämpfen. Ich erlebe kein persönliches oder familiäres Leid und lebe abseits vom Leiden und Sterben in Irlands Krankenhäusern und Pflegeheimen.

Dennoch sehe ich die Menschen, wie meine Schwester, die im öffentlichen Raum, oder dem, was davon übrig ist, Dienst tun und allzu oft dabei ihre eigene Gesundheit riskieren – sei es an Lebensmittelregalen oder an Kranken- und Pflegebetten. Ich empfinde Dankbarkeit und großen Respekt. Ich bete für sie (in religionsfreier Weise), dass sie in ihrer Kraft bleiben und die gewaltigen Belastungen möglichst unbeschadet durchstehen.

Manche der vielen Privilegierten, die im fein eingerichteten Nest gerade um ihr Wohlstands-Niveau fürchten, könnten derweil einmal über ihre Weinerlichkeit und ihre verloren gegangene Robustheit nachdenken. Die große Illusion hat gerade ein Ende. Die Vorstellung, dass immer alles gut ist, dass sich nichts ändert, dass Zufall, Unberechenbarkeit und Schicksal endgültig abgeschafft sind: Perdu. Die große Illusions-Blase ist geplatzt.

Wir stehen unter Realitäts-Schock. Das ist plötzlich Leben live – ohne Ablenkung und doppelten Boden. Das Ende der Simulation. Ist wirklich alles, was uns jetzt einfällt, der Hilferuf, möglichst schnell zur Normalität zurück zu kehren? Die von uns so genannte Normalität war eben keine Normalität, sondern ein lange ausgedehnter Ausnahmezustand, der uns an den Rand der Existenz geführt hat.

Wir haben jetzt ein paar Wochen Zeit aufzuwachen. Eine nachdenkliche Karwoche, Aufwachen an Ostern!

 

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Hinterm C gehts weiter. Nein, keine Visionen von der Zukunft. Nur soviel: Hinterm Horizont gehts heftig weiter. Das wird nicht gemütlicher, das wird nicht einfach wieder normal. Welt-Wirtschaftskrise ist wahrscheinlich kein zu großes Wort. Doch selbst das bleibt nur Denken innerhalb des sogenannten Normalen. Die wirklich großen Veränderungen werden außerhalb dieser angenommenen Normalität geschehen. Die Welt-Naturkrise bahnt sich seit Jahrzehnten an und nimmt immer mehr Fahrt auf. Noch immer aber nehmen wir sie nicht ernst.

Ich lese gerade das neue Buch All You Need is Less  von Niko Paech, dem bislang einzigen Postwachstums-Ökonomen Deutschlands mit einer Professur. Paech hat All You Need is Less (20 € beim sozialen Online Buchhandel Buch 7) zusammen mit Manfred Folkerts geschrieben, einem klugen Mann, der den Deutschen seit Jahrzehnten den Buddhismus frei von Religion und Esoterik erklärt – und der in den Lebenslehren Buddhas das Potential für eine globale Ethik einer humaneren Welt sieht. Manfred Folkerts schreibt:

Die Menschheit sägt an den Ästen, auf denen sie sitzt. Ihre Handlungen gefährden das System ihres Zusammenlebens, wenn nicht sogar die Fundamente ihrer Existenz . . . Ohne eine grundlegende Wende naht ein böses Ende, das von (sehr) vielen Menschen zumindest geahnt wird . . . Vor diesem Hintergrund sind meine Überlegungen zu einer “Kultur des Genug” entstanden.”

Aus den Einsichten und Lehren Buddhas entwickelt Folkerts eine Ethik zur Überwindung der Gier-Wirtschaft und zum Aufbau einer Postwachstumsgesellschaft. Das Buch All You Need Is Less erschien am 17. März und wusste nichts von unserer aktuellen Weltlage. Folkerts schrieb:

“Wenn die einzelnen Menschen diesen Wandel nicht selber vollziehen, werden sie bald durch unbeherrschbare Umstände dazu gezwungen. Statt wollen ist dann müssen angesagt, Wenn wir uns nicht ändern, werden wir geändert. Die viel beschworene und notwendige Transformation erfolgt dann by disaster und nicht by design.”

 

Die Erde hat ein toxisches Virus: Uns

 

Das Schlusswort im Alle-paar-Tage-Buch hat einer der klügsten Köpfe Irlands, Fintan O`Toole, der sich heute in der Irish Times Gedanken über die wirklich dramatische Herausforderung unserer Zeit macht:

“Die Erde hat ein toxisches Virus: Uns”.

O’Toole wertet die aktuelle Studie Behaviour & Attitudes (Haltungen und Verhalten) über die irische Gesellschaft aus. Er stellt fest (von mir zusammengefasst):

  • Aus Sicht der Erde sind wir das toxische Virus. Würden wir verschwinden, würde sich die Erde rasch erholen. Wir müssen einen Weg finden, den Wirt, den wir bewohnen und infizieren, nicht umzubringen.
  • Im Angesicht der aktuellen Virus-Krise tun wir plötzlich das Richtige, allerdings aus den falschen Motiven. Die Erde erholt sich gerade von uns und unserem Wirtschaften. Wir fahren die Ökonomie allerdings nur herunter, um uns selber zu retten.
  • Die Bedrohung durch das Klima ist in Wirklichkeit viel größer: Die Zivilisation kann durch das Virus beeinträchtigt werden, aber sie wird durch die rasante globale Erwärmung ausgelöscht werden. Dies ist seit den 1980er Jahren bekannt, doch es wurde relativ wenig getan, um es aufzuhalten.
  • Die große Frage ist: Was ist nötig, damit wir unseren kollektiven Geist auf diese langsamere, aber tiefgreifendere existenzielle Bedrohung konzentrieren können?
  • Sieben von zehn Irinnen und Iren sind “extrem besorgt über den Zustand unserer Umwelt”.  Dennoch ist Irland im Klimaschutz und Naturschutz bislang völlig untätig und im internationalen Vergleich ein Schlusslicht.

 

Fintan O`Toole hat spannende Antworten, wie die Transformation gelingen könnte und erhofft sich Rückenwind von unseren aktuellen Erfahrungen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Mehr darüber demnächst im Alle-paar-Tage-Buch.

Einen gelingenden Palmsonntag!

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Auch das noch: Treffen sich zwei Planeten. “Wie gehts?” fragt der eine. “Nicht sehr gut. Habe Home sapiens” antwortet der andere und erfährt Trost: “Keine Sorge, das geht vorbei . . . ”

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Cartoon mit Dank an Statistically Insignificant.  Foto: Markus Bäuchle; Vignette: Eliane Zimmermann