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John Moriarty on Irlandnews

„Wer ich von der Empfängnis bis zum Tod bin, ist nicht die ganze Geschichte.
Wer ich im Universum bin, ist nicht die ganze Geschichte.
Das Universum selbst ist nicht die ganze Geschichte.“
John Moriarty

 

Teil 3 unserer Serie über den irischen Philosophen und Schriftsteller, Dichter und Mystiker John Moriarty schreibt Johns Biografin Mary McGillicuddy. Mary stammt aus Cork und lebt seit 1978 in Listowel in Nord-Kerry. Sie wurde durch seine Fernsehsendung The Blackbird and the Bell und durch seine gelegentlichen Radio- und Fernsehinterviews auf John Moriarty aufmerksam, lernte ihn persönlich kennen und war von ihm fasziniert. Moriartys Autobiografie Nostos erschien im Jahr 2001 und war das erste Buch, das Mary von John las. Damit begann eine Reise, die zu ihrem 2018 erschienenen Buch John Moriarty Not the Whole Story führte, einer Einführung in sein Leben und seine Vision. In Zusammenarbeit mit Amanda Carmody veröffentlicht Mary im Sommer 2024 das Buch John Moriarty Grounded in Story, eine Auswahl von Moriartys eigenen Texten über das Aufwachsen in seinem Heimatort Moyvane, County Kerry. Mary ist Sekretärin des John Moriarty Institute for Ecology and Spirituality.

 

Von Mary McGillicuddy

In seinem Buch  Night Journey to Buddh Gaia schreibt John Moriarty (S. 255): „Auf einem Graffito an einem Giebel in Spanien steht: ‚Wie traurig, jung zu sein und die Welt nicht verändern zu wollen‘. John machte daraus: „Wie traurig, egal in welchem Alter, ob neun oder neunzig, die Welt nicht verändern zu wollen.“ Nach der Veröffentlichung des Buches antwortete er auf Nachfrage seiner Nichte Amanda: „Es klingt vielleicht verrückt, aber ich glaube, ich versuche, die Welt zu retten.“ Und zu seinem Freund, dem Dichter Paul Durcan, sagte er nach der Veröffentlichung von Nostos, dem ersten Band seiner Autobiografie: „Es ist skandalös, das zu sagen, Paul, aber ich glaube, ich versuche, die westliche Kultur zu heilen.“

Mary McGillicuddy on Irlandnews

Die Autorin: Mary McGillicuddy

Die Worte „verändern“, „heilen“ und „retten“ stehen im Mittelpunkt seiner außergewöhnlichen Mission, und zu diesen Verben möchte ich noch ein weiteres hinzufügen: „Verstehen“, . . . um sowohl sich selbst als auch die Welt zu verstehen, zu heilen und zu retten, in der er sich wiederfand und zu der er die meiste Zeit seines Lebens so sehr im Widerspruch stand. Diese transformative und transformierende Reise begann in einer ganz gewöhnlichen irischen Welt. Er wurde am 2. Februar 1938 als viertes Kind von Mary O‘ Brien aus Barragougeen an der Grenze zwischen Kerry und Limerick und Jimmy Moriarty aus Baile an Lochaigh in der Nähe von Dingle geboren und wuchs auf einem kleinen Bauernhof mit 27 Hektar Land im Townland von Leitrim Middle auf, etwa eine halbe Meile vom Dorf Moyvane in Nord-Kerry entfernt.

Seine Kindheit war reich und arm zugleich: reich an Geschichten, an Menschen und an der Freiheit, durch die Landschaft zu streifen; reich an Arbeitsethik, die Basis für Torfstechen, Heumachen oder Brotbacken, für die Pflege der Tiere, für das Erlernen der richtigen Umgangs mit dem Land; reich auch an Gemeinschaftssinn. Sie war jedoch finanziell arm; Geld war Mangelware, und um das magere Einkommen der Farm aufzubessern, reiste Johns Vater regelmäßig nach England, um dort zu arbeiten.

 


Teil 3 der Irlandnews-Serie über John Moriarty
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In der Regel erlangten Kinder aus einem solchen Umfeld keine Hochschulausbildung. Johns Weg von der Grundschule in Moyvane, in der er unglücklich war – er saß immer hinten in der Klasse, wurde ständig als „Schwachkopf“ gehänselt und regelmäßig geohrfeigt, weil er als dumm galt – bis zum Studienabschluss in Philosophie und Logik am University College Dublin mit der höchsten akademischen Auszeichnung: Das ist an sich schon eine faszinierende Geschichte. Noch faszinierender ist der Weg, der ihn von dort für einige Jahre als Dozent an die Universität von Manitoba in Kanada führte, wo er im Jahr 1971 im Alter von dreiunddreißig Jahren beschloss, „von Bord zu gehen“. Er kehrte der modernen Welt den Rücken und kehrte nach Irland zurück.

Er ging nach Connemara, in der Absicht, seine Busch-Seele zu finden, seine Seele außerhalb der Gesellschaft. Dort verbrachte er die ersten Jahre mit dem Versuch, sich aus der westlichen Kultur heraus zu taufen und seinen Geist in der Wildnis, inmitten der Berge und Seen von Connemara, neu zu erschaffen. John führte ein reiches, sinnliches Leben, ein Leben, das ihn schließlich zur Einsicht führte, dass „wir keinen neuen Himmel und keine neue Erde brauchen, sondern nur neue Augen und einen neuen Geist, mit denen wir die Erde und den Himmel, die wir bereits haben, sehen und erkennen können.“‚ Das Eingangszitat seines Buches Dreamtime (Traumzeit) stammt von dem römischen Dichter Horaz. „Du solltest deinen Geisteszustand ändern, nicht den Himmel“.

 

 

Das war die Aufgabe, der er sich stellte: Die Wahrnehmung zu reinigen, sich selbst zu befreien und in der Folge, so hoffte er, die Menschheit von allen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Kräften zu befreien, die uns seiner Meinung nach einsperren und begrenzen; uns aus der Hypnose der modernen Welt zu befreien, alle inneren und äußeren Mauern niederzureißen, die die Menschheit, wie er sagte, „in einem großen Gefängnis halten, dessen wir uns nicht bewusst sind, weil wir nicht die Augen haben, um eine andere Welt zu sehen, und keine andere Art zu schauen“. (Dreamtime, 3

Die Metapher von Mauern und Zäunen wurde zu einem wiederkehrenden Motiv in seinem Werk. Insbesondere der Hadrians-Wall, der von den Römern im Norden Englands errichtet worden war, um die wilden Schotten in Schach zu halten, wird zum Bild für all die Schranken, die wir gegen das errichtet haben, was wir am meisten fürchten: Gegen die Ungeheuerlichkeiten unserer eigenen Natur, gegen die Ungeheuerlichkeiten dessen, was wir nicht verstehen, gegen die Ungeheuerlichkeiten der natürlichen Welt, der wir nicht gewachsen sind. Gegen die Wildheit, die innere wie die äußere. Wir sind zu Geschöpfen der Ausgrenzung und der Verdrängung geworden und haben damit schrecklichen Schaden angerichtet. Das menschliche Auge, sagt Moriarty, ist zum bösen Auge geworden, zum súil mildagac aus der frühen irischen Mythologie, . . . das Auge, das alles zu käuflichen Waren macht, das alles zu Stein werden lässt, das eine Kuh ansieht und literweise Milch sieht, das einen Baum ansieht und Kubikmeter Holz sieht, das die natürliche Welt als eine Ressource betrachtet, die für den Komfort und die Bequemlichkeit der einen Spezies auf Kosten aller anderen genutzt wird. Seit Jahrhunderten, sagt er, hat dieser böse Blick die Welt in eine Wüste verwandelt. Eine Ödnis, die zersplittert, hypnotisiert, spirituell ausgetrocknet, mit einem Wort: verarmt ist.

Wir müssen lernen, dem Falken die Hand zu reichen

Vor mehr als vierzig Jahren sah John Moriarty, wohin diese Verwüstung führen würde. „Jetzt, da wir die Erde vom Weltraum aus gesehen haben, dieses sonnenbeschienene Wunder, das seit viertausend und sechshundert Millionen Jahren unterwegs ist, wäre es traurig, wenn wir aus Mangel an psychischer und kultureller Kraft uns neu zu erfinden,  zu dem Eisberg würden, an dem dieses Wunder zerschellt.“ (Nostos, vi) Vierzig Jahre später sind wir dieser Katastrophe leider sehr viel näher gekommen und wahrscheinlich so weit entfernt wie nie zuvor von einer Neugründung, die notwendig ist, um die Katastrophe zu verhindern. Die einzige Möglichkeit, die er sah, um ein solches Schicksal zu vermeiden, bestand darin, dass wir uns zurücklehnen und einen langen, harten Blick auf all das werfen, was wir ausgegrenzt und verdrängt haben, dass wir uns als das betrachten, was wir phylogenetisch gesehen sind, dass wir die Gesamtheit dessen, was in uns Natur ist, anerkennen und uns in irgendeiner Form damit arrangieren. John sagte: „Wir müssen lernen, dem Falken die Hand zu reichen“. (Curlew, 345)

John schrieb weiter: „Wir leben diesseits der Reise der Beagle², und gewiss ist eine Aufklärung, die nicht berücksichtigt, wer wir sind, nur eine Art Wunschdenken, das uns überrascht und ratlos zurücklässt, wenn wir in Sichtweite unserer Türme wieder scheitern – mit dem Schlamm Flanderns zu einer anonymen Masse verrührt.“ (Nostos, ix)

Weil wir diesseits der Reise der Beagle leben, wissen wir, dass wir menschliche Tiere sind, dass wir angesichts der technologischen Macht, die wir uns angeeignet haben, die gefährlichsten Tiere sind, die der Planet je gesehen hat, und dass wir zu Grausamkeiten fähig sind, die es in der natürlichen Welt nicht gibt. John erkannte, dass sich die Menschen in ihren so genannten Zivilisationen „einer Grausamkeit schuldig machen, die schrecklicher – weil toxischer – ist als alles, was uns in der Wildnis begegnet“ (Nostos, vii). Und dennoch glauben wir als Individuen, dass immer der andere der Wilde ist; wir sind zivilisierte, rationale Menschen, und die Barbarei ist da draußen . . . Wir sehen uns selbst als „the People of the Spires“ , die spirituellen Menschen der Kirchtürme.

Moriarty widerlegt diese Haltung eindrücklich und nachdrücklich: Sie ist ein weiterer Bestanteil unses Mauerbaus; eine Weigerung anzuerkennen, dass „ich die Augen und Zähne eines Affen habe, eines Fleischfressers. dass ich esse wie Fleischfresser essen; dass ich den Sexualtrieb mit Tieren teile, dass ich so atme, wie Tiere atmen, so schlafe, wie Tiere schlafen. Das meiste von mir, das meiste von dem, was ich bin, habe ich mit den Tieren gemeinsam. Mit anderen Worten, das Tier lebt gesund und munter in mir (aus einem unveröffentlichten Vortrag, 2001). In Dreamtime bringt er es auf den Punkt: „Ich bin mir nur allzu bewusst, dass das Gebiss eines Fleischfressers der Bergpredigt in meinem Kopf überlegen ist.“ (Dreamtime, 141)

 


HINTERGRUND-INFO

John Moriarty war ein irischer Schriftsteller und Philosoph, der für seine tiefen Einsichten und seinen mystischen Blick auf das moderne Lebens bekannt ist. Er wurde am 2. Februar 1938 in Moyvane, County Kerry geboren und starb am 1. Juni 2007 in Coolies bei Killarney. John Moriarty lebte ein ungewöhnliches Leben und hinterließ ein reichhaltiges Werk, das uns tiefe Einblicke in die Conditio Humana, über das Scheitern des Spezies Mensch und über mögliche Auswege aus der Sackgasse gibt, in der wir uns heute befinden.

Mary McGillicuudy´s Buch John Moriarty. Not The Whole Story ist eine empfehlenswerte Einführung in Leben und Werk von John Moriarty in englischer Sprache. Es ist im Jahr 2018 bei The Lilliput Press in Dublin erschienen und kann dort direkt online bestellt werden (20 € plus Porto). Es kann auch über deutsche Online-Buchhändler oder über den lokalen Buchhandel bezogen werden.

Informationen über John Moriarty und sein Werk in englischer Sprache finden Sie hier:

* Die neue offizielle Website für John Moriarty: www.johnmoriarty.ie. Sie informiert auch über eine großartige Gelegenheit, mehr über Johns Leben und Werk zu erfahren: Das John Moriarty Festival wird vom 21. bis 23. Juni 2024 in Moyvane, Co Kerry, Moriartys Geburtsort, stattfinden. Die Veranstaltung wird ein Highlight mit vielen ausgezeichneten Rednern sein. Informationen zum Programm gibt es hier
* The John Moriarty Institute for Ecology and Spirituality: Das JMI widmet sich der Bekanntmachung von Leben und Werk des Philosophen und unterstützt die ökologischen und spirituellen Anliegen John Moriartys. Die Insituts-Website ist eine reiche Quelle für Texte, Fotos und Videos von und über John. Zur Website: Klick.
* Das JMI betreibt auch eine sehr aktive Facebook-Gruppe mit täglichen Beiträgen zu John Moriarty. Weil es der guten Sache dient, ganz ausnahmsweise ein Link von Irlandnews zur Facebook-Gruppe. Klick.
* The Lilliput Press: Die Bücher von John Moriarty (bislang allesamt in englischer Sprache) werden von dem irischen Verlag The Lilliput Press in Dublin verlegt. Auf der Verlags-Website bekommt man einen guten Überblick über John´s Bücher und Audio-Bücher. Zur Website: Klick.


 

Einer der großen Irrtümer besteht laut Moriarty darin, dass die Welt der Seligpreisungen und der Kirchtürme von uns verlangt, dass wir uns von dem abwenden, was in uns animalisch ist. Er beschreibt seine eigenen Kämpfe mit den sexuellen Tabus in Irland in den 1950er Jahren und kommt zum Schluss, dass die sexuelle Natur selbst fast ein Tabu ist. Um die vorherrschende Haltung zu veranschaulichen, zitierte er oft Shakespeares König Lear: „Bis zum Gürtel erben die Götter, der Rest ist alles Teufelswerk.“ Und da sie dem Teufel gehörte, musste die menschliche Natur, die animalische Natur, unterdrückt werden. Ein Bild, das er regelmäßig verwendete, war das der bekannten Statue der Jungfrau Maria, die mit der Ferse auf dem Kopf der Schlange steht . . . Das Tier muss zertreten werden! Und dann fügte er seine Warnung hinzu: „Ein getöteter Drache ist kein toter Drache.“ (Dreamtime, 142)

In unserer Welt scheinen wir unsere gesamte Geschichte damit verbracht zu haben, Drachen zu töten und Mauern zu errichten, ohne zu erkennen, dass der Drache in uns steckt und immer bereit ist, auszubrechen, und dass Mauern völlig nutzlos sind; sie sind absolut zerstörerisch. „Die moderne Menschheit ist eine armselige Menschheit“ (Dreamtime, 7) – dies nicht nur, weil wir unsere instinktive Natur verleugnen, nicht einfach, weil wir den Planeten katastrophal ausbeuten, sondern wegen eines weiteren Verlustes, den wir erlitten haben, als wir in das Zeitalter der Wissenschaft und der Vernunft kamen. Am Ende von Dreamtime schrieb John: „Heutzutage sind wir im Westen im wahrsten Sinne des Wortes korrumpiert vom Verlangen, Dinge zu erklären. Unsere Begierde, Dinge zu erklären, verschleiert die Dinge. Denken Sie an die Blumenpredigt des Buddha. Wasser ist nicht H2O. Es mag aus H2O bestehen, aber es ist nicht nur das, woraus es besteht. Sobald es existiert, ist es mehr als seine Bestandteile. Es ist nicht einfach eine chemische Verbindung. In gewisser Weise ist Wasser ein Lebewesen.“ (Dreamtime, 248)

Diese Begierde, die Dinge zu erklären, so Moriarty, hat der Welt jeglichen Sinn fürs Staunen, für Ehrfurcht und Wunder genommen. Diese Sichtweise teilte der beliebte Dichter Brendan Kennelly. Als Brendan im Gespräch mit einem befreundeten Wissenschaftler im Trinity College das „Mysterium“ des Lebens erwähnte, bekam er zur Antwort: „Brendan, so etwas wie ein Mysterium gibt es nicht; alles, was ein Mysterium ist, sind bislang unentdeckte Fakten.“ Alles ist jetzt bekannt, reduzierbar, rational. Das Universum begann mit einem Urknall und wird mit einem Big Crunch enden. In einem wunderbaren Bild schreibt Moriarty: „Wir sind die Spezies, die das Siegel gebrochen hat.“ (Dreamtime, 235). Wir haben gegen vieles verstoßen, was in unserer Vergangenheit heilig war, und noch katastrophaler gegen alles Mysteriöse und Wunderbare in einer Welt, die wir ständig auf menschliche Größe reduzieren wollen. Wir haben einen großen Verlust erlitten. Um den Verlust zu veranschaulichen, erzählte John gerne diese Geschichte:

Ein Entdecker und Plünderer hatte Mitte des 19. Jahrhunderts in Afrika eine Gruppe starker Stammes-Männer angeheuert, um seine geplünderten Schätze an die Küste zu bringen. Eines schönen Morgens, nach einigen Wochen des geordneten Transports, weigerten sich die Stammesangehörigen, weiter zu gehen. Weder Drohungen noch Verprechungen konnten sie umstimmen. Schließlich erklärte einer von ihnen: „Wir haben uns während der letzten zweieinhalb Monde so weit und so schnell bewegt, dass wir uns jetzt hinsetzen und warten müssen, bis unsere Seelen uns einholen.“ (Seeking to Walk Beautifully on the Earth, Disc 1, Track 4)

Eine Absage an die Geradlinigkeit, ein Plädoyer für das Krumme

Das Buch: John Moriarty. Not The Whole Story, von Mary McGillicuddy. Eine empfehlenswerte Einführung in Leben und Werk des irischen Philosophen und Mystikers.

Moriarty sagt uns, dass der westliche Mensch in den letzten vier Jahrhunderten des unerbittlichen Fortschritts das gleiche Schicksal erlitten hat. Wir haben unsere Seele verloren, wir haben unseren Sinn für Wunder und Geheimnisse verloren, wir haben die animalische Natur in uns unterdrückt, wir haben gegen alles verstoßen, was heilig bleiben sollte, und folglich zerstören wir den Planeten. Wir sind geschäftige, hektische Mäuse in einer hektischen, zerstreuten Welt, und wir hören das Rauschen des Medicine River nicht mehr.

Aber vielleicht fangen wir jetzt an, angesichts dieses Weckrufs, der drohenden großen Umweltkatastrophe, zu zuhören. Und wenn wir zuhören, müssen wir bereit sein, einen Akt des Glaubens zu vollziehen. Wir müssen akzeptieren, wovon John Moriarty überzeugt war: „Dass es eine Seele gibt, . . . dass es etwas in mir gibt, das älter als die Elemente ist und vor ihnen war, dass es etwas in mir und in uns allen gibt, das älter als die Sonne ist und vor ihr war, und vor der Galaxie und und vor dem Universum selbst. Es gibt etwas, das nicht einmal mit dem Universum zu tun hat. Es ist transzendent.“

John Moriarty sagt uns, dass das Erkennen dieser Transzendenz, das Sehen der Transzendenz in der Herrlichkeit, den Wundern und Schrecken des Planeten, auf dem wir privilegiert sind zu leben, dass das Erkennen, dass wir alle Teil desselben großen Geistes sind, eines Geistes, der „viele Masken trägt“, eines Geistes, der nicht einheitlich ist, dass dies einen Namen hat: Dieses Erkennen bezeichnete John als Silver Branch Perception³, als Silberzweig-Wahrnehmung. Dies ist eine gereinigte Wahrnehmung, eine neue Art des Sehens, die ökumenisch ist, die gemeinschaftlich alle Arten, alle Rassen und alle Anderswelten erkennt und anerkennt. Sie könnte laut John zu einer neuen Form des Seins auf der „großartigen heiligen Erde“ führen.

Der Weg, diese Wahrnehmung zu kultivieren, führt über sein Konzept der Integration und Inklusion: Auch dazu hat er eine Geschichte. Als er dem Handwerker Bill Joyce beim Schneiden von Linoleum im Ballinahinch Castle zusah, war Moriarty überzeugt, dass Bill es schief schnitt. Er sprach ihn sehr diplomatisch darauf an. Bill ließ sich Zeit und antwortete ihm dann sehr nachdenklich: „Dies ist ein großes altes Schloss, John, ein großer alter Ort, und an einem großen alten Ort wie diesem kann man etwas nur gerade schneiden, wenn man es schief schneidet.“ (Six Stories, Disc 2, Track 7)

Dieses Bild setzte John dem biblischen Konzept aus Johannes 1:23 entgegen, „den Weg des Herrn zu ebnen“, dem Versuch, Geradlinigkeit zu erzwingen, indem man Unterschiede leugnet oder Unvollkommenheit verteufelt. Gehe mit der Krummheit, würde er sagen, erkenne, dass wir alle „krumme“ Wesen sind, in einer herrlich krummen Welt. Erkenne und anerkenne „mit einem freundlichen Auge“ die Krummheit, von der wir wissen, dass sie in uns selbst ist; und dann schau mit demselben freundlichen Auge auf die Krummheit, den Unterschied, in allem, was um uns herum ist.

 

John Moriarty giving a talk

John Moriarty bei einem Vortrag

Um die Unvollkommenheit besser zu verstehen, liefert John dieses Bild: Eine Blume auf einem Seerosenblatt auf der Oberfläche eines Sees hat ihre Wurzeln im Schlamm, daher existiert das Potenzial für Schönheit im Schlamm. Die Herausforderung, dieses Gedankens besteht für uns darin, in jedem schlammigen, dunklen oder verdrehten Ding das Potenzial für Reinheit zu sehen, diese diamantene Dimension, die er als „das Hosianna im Herzen des Atoms“ bezeichnete. Lassen sie auf sich wirken, was John dazu zu sagen hat:

„Egal, wie böse in noch so vielen Leben ich war, im Kern meiner Seele bin ich immer noch so rein wie ein Wassertropfen auf einer Lotusblüte . . . Es ist nur das Verhalten, . . . dass unsere Welt in Schwierigkeiten ist, dass wir in Schwierigkeiten sind. Hinter allem aber steht Reinheit . . . Adam und Eva wandeln im Kern ihres Wesens immer noch im Paradies. Der Teufel ist im Kern seines Wesens immer noch ein Engel, der den himmlischen Lobgesang singt. Das gilt, im Kern seines Wesens, für Caligula. Das gilt im Kern seines Wesens für Nero, Stalin, Hitler . . . Das gilt für die Atome Deiner Seh-Zellen, es gilt für die Atome der Krebszellen, die Dich umbringen. Im Kern unseres Seins wandeln wir alle noch im Paradies.“ (Curlew, 117)

Genau dies ist laut John Moriarty Silver Branch Perception, die Silberweig-Wahrnehmung, „eine Art zu sehen, egal was es ist“. Dies ist die Vision, die in uns gedeihen muss, bevor es eine wirkliche Verhaltensänderung in der Welt geben kann und bevor es eine Hoffnung auf Utopia gibt. Als Individuen können wir dieses Eine tun: Wir können die Silberzweig-Wahrnehmung in uns entwickeln, wir können die Fürsorge und das Mitgefühl kultivieren, die diese Vision erfordert; Fürsorge und Mitgefühl für diejenigen, die wir heute als die schlimmsten Übeltäter ansehen, für diejenigen, die wir ausgrenzen und verteufeln: für den Terroristen, den Pädophilen, den Rassisten, den Selbstmordattentäter, den rechtsextremen Fundamentalisten – von denen wir wissen, dass sie im Grunde ihres Wesens immer noch im Paradies wandeln. Dann werden wir vielleicht die Sprache des Zorns, der Beschuldigung und der Ausgrenzung hinter uns lassen und zu einer inklusiveren, mitfühlenderen Sichtweise finden – und damit zumindest einen Pfad öffnen zu einer mitfühlenden Lebensweise in einer verhaltensbedingt fehlerhaften, aber potenziell wunderbaren Welt.

 

Fortsetzung folgt

 


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Fotos: Bilder von John Moriarty mit freundlicher Genehmigung von The John Moriarty Institute.
Buch Cover: The Lilliput Press Dublin

Anmerkungen:
¹ in Klammern sind jeweils die Quellen mit Seitenzahl genannt, in der Regel die Bücher von John Moriarty: Dreamtime, Nostos, What The Curlew Said ; auch einige Ton-Dokumente werden zitiert.
² Die Reise der Beagle: Moriarty spielt auf Charles Darwin´s bahnbrechende Forschungsreisen mit der HMS Beagle nach Südamerika an, denen die Menschheit die Evolutionstheorie verdankt.
³ Als Silver Branch Perception bezeichnet John Moriarty eine gereinigte Wahrnehmung, ein reines Sehen, das wir als „Silberzweig-Wahrnehmung“ übersetzt haben. Den Begriff hat er dem keltischen Mythos The Voyage of Bran entlehnt. Der Hochkönig Bran hat beim Anblick eines silbernen Apfelzweiges eine erkenntnis- und handlungsleitende Erscheinung. Er segelt daraufhin mit seiner Gefolgschaft aufs weite Meer, nimmt Zwiesprache mit dem Meeresgott Manannan  Mac Lir und gelangt zur Insel der Frauen in der Anderswelt.

 

 

 

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