Irland im Januar-Blues

Heute ist Silvester. Es stürmt. Eben noch war Black-Friday-Monat. Hatte der Dezember nicht gerade erst begonnen? Die redefreudige Mary an der Supermarktkasse wünschte mir doch gerade einen guten Tag und fragte nach der Wetterbeschimpfung (An old rotten day) auf Autopilot, ob ich denn für Weihnachten bereit sei. 

All set for Christmas? Das fragt man hier im Dezember immer und jeden. Es ist die Saison-Floskel für den Advent. Sie spart jede Menge Denk-Energie. Manchmal antworte ich paradox: Wir machen kein Weihnachten. Mary stutzt einen Moment lang, fragt dann ratlos: Ja aber, bist Du darauf vorbereitet?

Wer weiß es.

Auf den Dezember freuen sich hier auf dem Land am Atlantik nach permanentem Bekunden alle Menschen. Dezember, das ist Lichterglanz, die Hütte brennt, Feiern, Familie, Völlerei, Truthahn, Schinken, Alkohol in Badewannen, und kistenweise Süßes. 

Am Ende des letzten Monats im Jahr schauen viele Insulaner dann missmutig in die nahe Zukunft. Die ultimative Silvester-Sause kann es nicht verbergen: Sie werden mit schweren Köpfen im schrecklichen Januar aufwachen.

Warum so viele Menschen den Januar als schrecklich, deprimierend und grässlich empfinden? Die Tage werden wieder länger. Er ist die Zeit des Neubeginns, des Aufbruchs, des Plänemachens, der neuen Hoffnung . . . 

Derweil starren die keltischen Nachbarn in den dunkelsten Abgrund: Der Januar sei eine furchtbare Zeit. Die furchtbarste. Die Stimmung unterirdisch, der Geldbeutel leer, die Energie auf Null, die Motivation mager. Ein Land weint den Januar-Blues.

Der Blutdruck gallopiert, die Leber leidet still, die Waage ächzt unter den Füßen und gibt krasse Phantasiezahlen aus. Vorbei das Feiern, vorbei die Geselligkeit, abgereist die Freunde, die Cousins, die Brüder und Schwestern, vorbei die arbeitsfreie Zeit. Draußen ist es kalt, nass, windig und dunkel. 

Die Pflichten rufen laut, der Alltag droht – und all die verdammten Vorsätze, die Mitte Januar schon gescheitert sein werden, drücken gnadenlos auf die niedergeschlagene Stimmung. Warum mehr bewegen, weniger rauchen, endlich nicht mehr koksen, viel Salat und Gemüse essen, auf Smartphone-Diät gehen und auch noch einen nüchtern-trockenen oder einen fleischlosen Januar durchstehen? Vielleicht einfach mal Aufhören mit der Optimiererei? 

Es ist kein Land in Sicht, kein Anker greifbar: Das nächste Fest, die nächste Vorfreude allzu weit weg. Dunkle Leere überall. Zwischen jetzt und der Hoffnung liegt die tiefe Schlucht der Fastenzeit. In Irland ist es ein weiter Weg bis Ostern, und es gibt noch nicht einmal eine Fasnacht oder einen Fasching als letztes Aufbäumen vor dem langen Gang durch die lustfeindliche Verzichts-Wüste. Fastenzeit. 40 Tage und sechs Sonntage lang, oder eher weit, vielleicht sogar tief . . .  Das alte Ritual vielleicht einfach ignorieren? Den St. Patrick´s Day Mitte März könnte man doch mindestens eine Woche lang feiern . . . 

Wer weiß es. 

Vielleicht hilft ein Urlaub? Lanzarote schon im Januar? Einfach mal abhauen und unter südlicher Sonne ein wenig weniger unglücklich sein? Ach ja . . . Ach nein . . . Das hat letztes Jahr doch auch nicht geholfen.

Südfenster

Fotos: Markus Bäuchle

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