Ich fragte dieser Tage meinen Vater, der in Süd-Brasilien lebt, ob ich und wir tatsächlich das schwerste Erdbeben aller Zeiten in Chile miterlebt hatten, es hat einen Eintrag bei Wikipedia. Der folgende heftige Tsunami trug eine Welle der Zerstörung durch den Pazifik, bis Japan spürte man das Beben, denn beide Länder sind durch den “Ring of Fire” verbunden. Wir lebten in Santiago, der Hauptstadt, und ich war knapp ein Jahr alt. Mein Vater schreibt dazu:

Ja, wir haben das Erdbeben vom 22. Mai 1960 miterlebt und auch gespürt. Das Epizentrum war damals nahe bei Valdivia, also circa 900 km von Santiago entfernt, aber wir haben die Erschütterungen durch das Erdbeben gespürt, natürlich ohne zu wissen, ob es sich um einen “temblor”, so werden in Chile die Erdbeben des unteren Teils der Richter-Skala genannt, in kürzerer Entfernung, oder um ein richtiges “terremoto” aus dem oberen Teil der Richter-Skala handelt. 

 Frutillar am Llanquihue-See mit Blick auf den Vulcán Osorno | Frutillar at Lake Llanquihue with view to Vulcán Osorno

Ich hatte schon als Kind gelernt, dass der einfache hölzerne “Stubenwagen” in dem ich die ersten Monate meines Leben schlief, oft etwas schaukelte und wackelte. Man kennt das in Chile, man ist daran gewöhnt ist, dass es immer irgendwo wackelt, es handelt sich um eines des 500 kleineren und harmlosen Beben pro Jahr.
I asked my father, who lives in South-Brazil, whether we really had been in Santiago de Chile at the time of the worst earthquake on earth which is even mentioned in Wikipedia. It happend on the 22nd of May in 1960, I was barely one year old. He wrote we did, yes, but that it was some 450 miles away from our house in the capital and nobody knew whether it was one of the 500 daily minor “shakes” which you are used to as a Chilean or some worse case scenario. My parents had no tv-set and heard about the bad news in the radio some time later.

Postkarte, die mir mein Vater aus Santiago sandte | postcard my father sent me from Santiago

Meine Eltern hatten damals natürlich noch kein Fernsehen, jedoch erfuhren sie bald im Radio vom Ausmaß der Naturgewalten, die rund um das Epizentrum bei Valdivia für gewaltige Zerstörungen  gesorgt hatten. Mein Vater war ein junger Mitarbeiter der deutschen Botschaft und rechnete mit besonderen Vorkehrungen, denn die betroffnene Gegend war altes deutsches Siedlungsgebiet. Er berichtet:

Nähere Einzelheiten erfuhren wir einige Tage später vom Kulturreferenten der Botschaft, der an einer Tagung der zahlreichen deutschen Lehrer in Frutillar am LLanquihue-See (Foto oben) teilgenommen hatte: Während einer Kaffeepause, als alle im Garten der Tagungsstätte versammelt waren, begann sich der Boden derart stark zu bewegen, dass man sich kaum noch auf den Beinen halten konnte (Frutillar liegt weniger als 100 km von Valdivia entfernt).

The worst affected region is and was a place with lots of German settlers and from a German teacher in Frutillar at Lake Llanquihue (about 70 miles from the epicentre) my parents heard, that during a break they were drinking coffee in the garden and the earth shook so much that they could hardly stand on their feet anymore.
Am Rande dieser Katastrophe ereignete sich eine eher lustige Begebenheit im Berufsleben meines Vaters. Da ich knapp zwei Jahrzehnte später zufällig die Babysitterin der Enkel des betreffenden Politikers wurde, hat die folgende Geschichte auch irgendwie mit mir zu tun. Mein Vater schreibt:

Wie der Zufall es so wollte, hielt sich zum Zeitpunkt des Erdbebens unser damaliger Bundesinnenminister (später auch Bundesaußenminister) Gerhard Schröder (nicht verwandt mit unserem späteren Bundeskanzler gleichen Namens) als Ehrengast bei der 150-Jahrfeier der Unabhängigkeit Argentiniens (25. Mai) in Buenos Aires auf. Eigentlich ohne offiziellen Auftrag der Bundesregierung unter Kanzler Adenauer) benutzte er die Gelegenheit, dem zerstörten Teil von Chile einen Sympathiebesuch abzustatten. Möglicherweise hatte er im Hinterkopf, dass so eine Stippvisite auch ganz gut für sein politisches Image sein könnte, denn er war ein Kandidat für die Nachfolge von Adenauer.

Mein Vater beschreibt, wie sie durch Missverständnisse unkorrekte Informationen über die genaue Ankunftszeit der mehrköpfigen deutschen Delegation erhielten. Sein Chef, der Botschafter, konnte sich daher nicht spontan zu einem außerplanmäßigen ‘Empfangskomittee’ durchringen und so nahm mein Vater ihm die Entscheidung kurzerhand ab – er war u.a. für Protokollangelegenheiten der Botschaft zuständig. Er fuhr, begleitet von einem Konsulatssekretär und einem Amtsgehilfen, in einem Privatwagen zum Flughafen.
Als sie am Flughafen ankamen, stand das Flugzeug mit dem Innenminister schon auf dem Rollfeld und mein Vater eilte durch die Empfangshalle, als er den ihn gut bekannten Oberbefehlshaber des chilenischen Heeres, General Otto, traf. Mein Vater schilderte dem gut deutsch sprechenden Militärsmann in Uniform in wenigen Worten das diplomatische Dilemma (also dass nicht der Chef der Botschaft anwesend sei) und fragte ihn, ob er bereit sei, mit auf das Vorfeld zu kommen, um den deutschen Minister in aller Form zu empfangen. Er war sofort einverstanden und so marschierten der junge Legationssekretär der Botschaft, mein Vater, begleitet vom höchsten General des chilenischen Heeres, zum Flugzeug, um einen deutschen Bundesminister zu begrüßen. Protokollarisch gesehen ein Unding!
My father had a funny diplomatic adventure in the days after the earthquake with a well known former German minister of the interior, who had been in Argentina during the earthquake. He had made a sponteous decision to go a brief visit to the place of the catastrophy. Due to some misunderstandings in the embassy about the time of his arrival my father’s boss, the German ambassador, couldn’t make up his mind whether to go to the airport or not. So my father decided for him and rushed away; the plane had already landed while my father ran though the arrival building. There he met the generalissimo of the Chilean army (who spoke German) and so my dad quickly explained the delicate situation of the ambassador being absent for the reception of a German minister and the kind commander-in-chief walked to the runway with him.  The photograph was taken in the very moment where the politician couldn’t believe his eyes that instead of the expected boss of the embassy there was the commander of the Chilean army.
Das Foto entstand in diesem Moment, als Innenminister Schröder nicht begreifen konnte, dass kein deutscher Botschafter zu seinem Empfang anwesend war. Mein Vater amüsiert sich:

Im Nachhinein konnte Herr Schröder nicht glauben, dass der hochrangige General nur durch Zufall zur Begrüßung anwesend gewesen war.

 Vulcán Osorno (vulcano Osorno)

Schröder stattete also der stark beschädigten Stadt Valdivia mit seiner Delegation einen Kurzbesuch ab, nach seiner Abreise erhielt mein Vater den Auftrag, sich im Namen der deutschen Regierung selbst ein Bild von der Katastrophe zu machen. Er schildert:

Es sah schlimm aus: Es gab nicht nur die schweren Schäden durch das Erdbeben selbst, hinzu kamen einige Tage danach weitere Verwüstungen durch den Rinihue-Fluss, an dessen Oberlauf im Gebirge sich zunächst eine Art Staudamm gebildet hatte, der einige Tage später brach, sodass die Flutwelle noch zusätzlichen Schaden verursachte. Dabei wurde auch der Hafen Valdivias an der Flussmündung, mit dem Dorf Corral, stark in Mitleidenschaft gezogen. Bei meinem damaligen Besuch in Valdivia habe ich eines mitgekriegt: Man kann weitgehend erdbebenfest bauen. Ich habe in einer stark zerstörten Straße ein Haus (wohl ein Geschäftsneubau) gesehen, das völlig unbeschädigt zwischen Ruinen stand und bei dem nicht einmal große Glasfenster zerbrochen waren. Vermutlich waren dafür Architekten verantwortlich, die sich in Kalifornien oder Mexiko umgesehen hatten.

A few days later my father himself went to Valdivia and he saw horrible scenes. But he also realized that it is possible to build in a earthquake-safe manner because among the completely destoyed houses he had discovered a building which was allright, even the windows weren’t broken. Farbfotos: Karin Zimmermann