Edna O'Brien Mother Ireland

Am 27. Juli 2024 starb eine der bedeutendsten, wenn nicht die wichtigste zeitgenössische Schriftstellerin Irlands, Edna O’Brien, im Alter von 93 Jahren in ihrer Wahlheimat London. Edna O’Briens Beziehung zu Irland war von tiefer Ambivalenz geprägt. Während ihr Heimatland den Hintergrund und die Inspiration für einen Großteil ihrer Arbeit lieferte, war sie in jungen Jahren der irischen Zensur und existenzbedrohender Kritik ausgesetzt. Ihr erstes großes Werk, The Country Girls (1960),

Edna O'Brien

Edna O’Brien (2015)

und zwei folgende Bücher wurden in Irland verboten und öffentlich verbrannt. O’Brien schrieb schonungslos offen über alle Lebens-Aspekte der Menschen auf dem irischen Land. In späteren Jahren begann das offizielle Irland, O’Brien zu vereinnahmen und ihr furchtloses Erzählen und ihre Beiträge zur Literatur zu preisen. Heute gilt sie unbestritten als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen des Landes.

Zur Erinnerung an Edna O’Brien eine kurze Passage aus ihrem 1976 erschienen Buch Mother Ireland, zitiert nach der deutschen Ausgabe Mein Irland (1996, Hoffmann & Campe) in der Übersetzung von Momo Schlender.  O’Brien beschreibt schon in den 70-er Jahren den fortschreitenden kulturellen Verfall in Irland, der heute in einem erschütternd geistlosen neoliberalen Materialismus gipfelt.

„. . . Die gemarterte irische Mutter und der rasende, übermütige irische Vater sind nicht irgendwelche Eigentümlichkeiten aus den Werken verteufelter Schriftsteller, sondern in Familien im ganzen Land an der Tagesordnung. Die Kinder erben eine Dreieinigkeit von Schuld: die Schuld für das Leiden Christi und seine Kreuzigung, die Schuld für das geplünderte Land und die geheime Schuld für die vom unersättlichen Vater vielfach geschändete Mutter. Diese ganze Szenerie, all die unterschwelligen Spannungen sind zu viel. Es gibt auch eine Hoffnungslosigkeit, die durch eine Überfülle natürlicher Schönheit erzeugt werden kann, wenn nämlich ein kultureller und intellektueller Sumpf vorhanden ist. Die Frage ist nicht, wo all die Feen geblieben sind, sondern, wo jetzt all die Denker sind.

Iren mögen es nicht, wenn man ihnen widerspricht. Wieder und wieder reingefallen, haben sie eine Wut in sich, die einen unvermutet anfallen kann wie ein plötzlich vorspringender Dornenstrauch. Da gibt es jene, die die Vergangenheit nicht vergessen können, und jene, die sie nur gar zu gern vergessen und in einer der allgemein heilig gehaltenen Tiefkühltruhen begraben möchten. Maude Gonne McBride, eine Patriotin, deren Schönheit eine ständige Inspiration für W. B. Yeats war, sah das Herz Irlands mit kraftvollem Leben unsichtbar bevölkert, allerdings sah sie auch Dinge, die weniger spiritistisch veranlagte Sterbliche nicht erfassen konnten. Das Land ist atemberaubend schön, aber es gibt auch unleugbare Traurigkeit, die Traurigkeit, abgeschnitten zu sein, die Traurigkeit eines verbissenen Materialismus, klappriger Leichtbauweise, sichtbarer Barbareien und einer kulturellen Schwindsucht, die bis ins Gehirn geht. Es gibt nur wenige neue Gedichte und Theaterstücke, und sie repräsentieren entweder leise Stimmen, die traurig über ihre eigene Entfremdung sind, oder es sind Werke von solcher Geschmacklosigkeit, daß sie symptomatisch für die Massenpsyche eines erdrosselten Volkes erscheinen. Keine großen Philosophen, keine großen Psychiater, keine Errungenschaften auf Gebieten, wo die Logik eine Rolle spielt – große literarische Begabung, gewiß, aber magere Angebote in den letzten dreißig, vierzig Jahren.“ (Mein Irland, S. 32 – 34)

 

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Fotos: Doppelseite aus Edna O’Brien Mother Ireland (The West); Edna O’Brien 2015 auf Capri: Wikipedia