The Troubles

Belfast Summer 1981

In Teufels Gerüchteküche

Milchmann von Anna Burns,
übersetzt von Anna-Nina Kroll

Eine Rezension von Ellen Dunne

 

 

„Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine
Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte,
mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann
starb.“ (S. 7)

 

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt künftig auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Zugegeben – ich habe allgemein eine Schwäche für gute erste Sätze. Aber dieser Auftakt zu Anna Burns‘ mit dem Booker Preis 2018 ausgezeichneten Geschichte hat sofort eingeschlagen, mich am Schlafittchen gepackt und hinter sich hergezogen. Hinein in eine namenlose Stadt (Belfast zum Verwechseln ähnlich). In eine nur durch popkulturelle Referenzen zuordenbare Zeit (in etwa 1980). Mitten in eine geschlossene, von Machismo und Konflikt geprägte Gesellschaft.

Belfast, anno ’80: Bloß keine Aufmerksamkeit!

Die 18-jährige „mittlere Schwester“ versucht sich mit Büchern und einer rotzigen Leck-mich-Attitüde gegen die bittere Realität ihres Alltags abzuschotten. Aber wer in dieser isolierten Welt der pro-irischen und pro-britischen Fraktionen aus dem Rahmen fällt, wird geächtet. Wer Interesse auf sich zieht, gerät schnell in Gefahr.

Und Aufmerksamkeit erhält die Protagonistin mehr, als ihr lieb ist: Ohne eigenes Zutun wird sie zum Objekt der Begierde eines angesehenen lokalen Paramilitärs. Trotz ihrer Ablehnung beginnt sie der verheiratete „Milchmann“ immer aggressiver zu stalken. Das bleibt natürlich auch ihrem Umfeld nicht verborgen. Doch anstatt Unterstützung zu erfahren, wird „mittlerer Schwester“ eine Affäre angedichtet. Eine immer bedrohlichere Spirale aus Interpretation, Gerüchten und Hörensagen kommt in Gang.

Der alltägliche Terror von sexueller Gewalt

Seit den 90ern interessiere ich mich für den Nordirlandkonflikt und bin ziemlich belesen, was Romane zum Thema angeht. Auch wenn Milchmann kein expliziter Nordirland-Roman ist: Kaum jemand hat mir die erdrückende Atmosphäre im Brennpunkt der „Troubles“ so greifbar, ja fast körperlich spürbar vermittelt wie Anna Burns in ihrem dritten Roman. 1962 geboren und aufgewachsen im Belfaster Arbeiterbezirk Ardoyne, weiß Burns bestens, wovon „mittlere Schwester“ spricht.

Milchmann ist ein Buch der Andeutungen, der Vermutungen, des Vagen – von Gerüchten, die schließlich zu Wahrheiten werden, Menschen isolieren und ihre Leben nachhaltig aus der Bahn bringen. Die latente Bedrohung durch den Milchmann wickelt die namenlose Heldin ein wie ein Leichentuch, schneidet ihr jeden Ausweg aus dem Dilemma ab. Dabei wird die immer schwerer in der Luft liegende sexuelle Gewalt von schier allen Beteiligten als normal hingenommen – und darin liegt für mich der wahre Terror.

Milchmann von Anna Burns, Titelbild

Milchmann von Anna Burns, übersetzt von Anna-Nina Kroll, erschienen im Tropenverlag

Innerer Monolog mit schwarzem Belfaster Humor

Dass die Düsternis nie ganz die Oberhand gewinnt, ist Anna Burns‘ typisch nordirischem, schwarzen Humor zu verdanken, den sie ihrer Hauptfigur mit auf den Leidensweg gibt. In geradezu absurden Passagen geben die starken Männer ihre eigenen Drohgebärden der Lächerlichkeit preis, zum Beispiel, wenn ein simpler Autoersatzteil eines britischen Herstellers zu Problemen mit den Nachbarn führt:

 

»Ist ja schön und gut, Nachbar«, sagte dieser Nachbar, »dass du ein Teil von diesem sogenannten Oldtimer hast und alles, und ich will ja nicht spitzfindig sein, aber«, alles hielt den Atem an, sah den Dolchstoß kommen. Und dann stieß er zu: »Wer von euch hat denn das Teil mit der Flagge gekriegt?« (S. 32)

 

Vor allem stilistisch ist der Milchmann herausragend. Wunderbar übersetzt von Anna-Nina Kroll, entwickelt der mäandernde innere Monolog von „mittlere Schwester“ einen hypnotischen Sog. Kein einziger der Charaktere wird beim Namen genannt – nur in Beziehung zur Protagonistin gesetzt. So begegnen wir neben dem Milchmann und den Nachbarn noch dem Vielleicht-Freund, den Schwagern eins bis drei und nicht zuletzt „Irgendwer McIrgendwas“. Die Briten sind „die über dem Wasser“ und die Iren „die über der Grenze“.

Diese codierte und verklausulierte Sprache ist oft amüsant und gibt dem Roman eine zeitlose Relevanz. Sie braucht aber auch viel Konzentration. Der Milchmann ist kein Schmöker für zwischendurch. Er fordert all die Aufmerksamkeit ein, die seine Protagonistin so unbedingt vermeiden will. Und er hat sie sich absolut verdient.

 

Meine Meinung:
Ein außergewöhnlich erzählter Roman über eine gespaltene, von (sexueller) Gewalt geprägte Gesellschaft, der auch die Lesenden polarisiert. Ich persönlich habe den Milchmann geliebt und kann ihn nur empfehlen, nicht nur für am Nordirlandkonflikt Interessierte. Denn dieses Belfast könnte überall sein.

Hat hier jemand schon den Milchmann gelesen? Bin gespannt auf Eure Leseeindrücke!

 

Milchmann
Anna Burns, übersetzt von Anna-Nina Kroll
Erschienen im Tropen-Verlag, 452 Seiten, 25 €
Im lokalen Buchhandel oder bei Buch7

 

Fotos: Tropen Verlag, Ellen Dunne (© Orla Connolly), Markus Bäuchle (oben)