Im Herzen die Wut
Cyril Avery von John Boyne,
übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
Eine Rezension von Ellen Dunne
»Lange bevor wir herausfanden, dass er zwei Kinder mit zwei verschiedenen Frauen gezeugt hatte, einer in Drimoleague und einer in Clonakilty, stand Father James Monroe vor dem Altar der Kirche Unserer Lieben Frau, Stern des Meeres, der Gemeinde Goleen in West Cork und brandmarkte meine Mutter als Hure.« (S. 9)
Der erste Satz verrät es schon: Es ist ein typisch irisches Trauma, dessen sich John Boyne in Cyril Avery annimmt. Die Schreckensherrschaft der Schein-Heiligen im Talar gehört inzwischen fast schon zum Standard-Repertoire von irischer Literatur, die etwas auf sich hält. „The Heart’s Invisible Furies“ – so der Titel im englischen Original – rechnet ebenfalls mit Bigotterie und Menschenverachtung in den kirchlichen Institutionen im Irland Mitte des letzten Jahrhunderts ab. Aber nicht nur damit.

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly
Die große Suche nach Liebe – und emotionaler Heimat
Die Lebensgeschichte des 1945 unehelich geborenen Cyril Avery ist ein Paradebeispiel des „luck oft the Irish“. Sprich, er wird vom Pech verfolgt. Von einer „buckligen alten Nonne“ an exzentrische und wenig liebevolle Adoptiveltern vermittelt, schieben die ihn schnellstmöglich in ein Internat ab. Dort lernt er den privilegierten Julian kennen, zu dem er sofort eine tiefe Freundschaft entwickelt – und in den er sich später verliebt. Diese Liebe bleibt nicht nur unerwidert, sondern ist im konservativ-homophoben Irland der 1960er in jeder Hinsicht unmöglich. Das findet Cyril schmerzhaft heraus, als er sich an einen Arzt wendet, um sich von seiner Liebe zu Männern „kurieren“ zu lassen.
»Hören Sie mir denn nicht zu?«, sagte er und lächelte, als wäre ich ein völliger Dummkopf. »Ich sage Ihnen doch, dass es in Irland keine Homosexuellen gibt. Und wenn es in Irland keine gibt, wie um alles in der Welt könnten Sie dann einer sein?«
Ich überlegte und tat mein Bestes, die Logik seiner Argumentation zu begreifen.
»Also«, fuhr er fort, »warum denken Sie, dass Sie einer von denen sind? Ein dreckiger Schwuler, meine ich?« (S. 248)
In seiner Verzweiflung über die gesellschaftliche Ignoranz und die dadurch erzwungenen, eigenen Heimlichkeiten versucht sich Cyril in eine Ehe mit Julians kluger Schwester Alice zu retten – nur um sofort nach dem Ja-Wort endgültig von der Insel zu flüchten. In Amsterdam findet er im holländischen Arzt Bastiaan endlich seine Liebe und geht mit ihm nach New York. Doch der Ruf seiner Heimat Irland wird lauter – und das Schicksal ist noch nicht fertig mit ihm.
Ein Hollywood-taugliches Panorama mit Botschaft
Katholizismus. Homophobie. Frauenfeindlichkeit. AIDS. Es sind große, breitenwirksame Themen, die John Boyne hier aufreiht und die eigentlich jedes für sich Regale füllen könnten. Ihnen allen widmet er sich sehr zugänglich, mit viel Empathie für seine Charaktere, aber vor allem für seinen gebeutelten Protagonisten.
So wie schon bei seinem internationalen, verfilmten Bestseller „Der Junge im gestreiften Pyjama“ zielt John Boyne mit Cyril Avery mitten ins emotionale Herz seiner Leserschaft. Er spart nicht mit Dramen, Wendungen und Zufällen, als hätte er den nächsten Hollywood Blockbuster schon im Auge. Trotzdem umschifft er geschickt die allzu hohen Klippen der Melodramatik und weiß, wann Dinge besser unerzählt bleiben. Das gilt auch für die im Originaltitel angedeutete Wut von Cyril über die Ungerechtigkeiten, die (nicht nur) ihm widerfahren. Sie kommt nie an die Oberfläche, deutet sich nur an unter Harmoniebedürfnis und sanfter Ironie. So wie in einem Gespräch mit seinem zukünftigen Mann Bastiaan:
»Was geht vor in Irland? Seid ihr alle völlig durchgeknallt da drüben? Gönnt ihr euch gegenseitig kein Glück im Leben?«
»Nein« , hatte ich darauf erwidert und es schwierig gefunden, ihm mein Land zu erklären. »Nein, ich fürchte, das tun wir nicht.« (S. 371)
Fabulierlust und Erzählkunst
Trotz der vielen tragischen Ereignisse ist Cyril Avery ein Buch prallvoll mit oft amüsanter Fabulierlust, und liest sich trotz der hohen Seitenanzahl unglaublich leicht, ohne jemals flach zu werden. Dafür sorgen die oft witzigen – und für meinen persönlichen Geschmack manchmal etwas zu langen – Dialoge, in denen die Charaktere die gesellschaftlichen Zustände, und nicht zuletzt oft sich selbst entlarven.
»Ich lese gerade Edna O’Brien«, sagte Miss Ambrosia und senkte die Stimme, damit sie keiner der Westlicotts mitbekam und sich wegen ihrer Vulgarität beschwerte. »Eine einzige Schweinerei.«
»Lassen Sie das den Minister nicht hören«, sagte Miss Joyce und blies einen perfekten Ring in die Luft. Es war unmöglich, ihm nicht hinterherzusehen, wie er zur Lampe aufstieg und sich langsam auflöste, bevor er sich in unsere Lungen schlich, um sie zu vergiften. »Sie wissen, was er von Frauen hält, die schreiben.«
»Er mag auch keine Frauen, die lesen«, sagte Miss Ambrosia. »Er hat mir mal gesagt, dass das Lesen die Frauen nur auf dumme Gedanken bringt.« (S. 214)
So verfliegen mit den Seiten auch die Jahre für Cyril Avery – bis er schließlich zu guter Letzt sowohl Familie als auch Heimat auf der Insel findet. In einem Irland, das als erste Nation weltweit mittels Referendum die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt. Eine gesellschaftliche Entwicklung, über die man, gerade nach der Lektüre dieses Romans, nur immer wieder positiv überrascht sein kann.
Meine Meinung
Cyril Avery ist ein tragikomischer, humanistischer und ironischer Ritt durch Irlands Geschichte und Gesellschaft ab Mitte des 20. Jahrhunderts, der große Themen leichtfüßig vermittelt, ohne dabei oberflächlich zu werden. Gerade als Urlaubslektüre sehr zu empfehlen.
Cyril Avery
John Boyne, übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
Erschienen im Piper Verlag, 736 Seiten, 14 Euro,
im lokalen Buchhandel oder bei Buch7
Fotos: Wikimedia Commons (Titelfoto), Piper Verlag, Ellen Dunne (© Orla Connolly)
Vielen Dank für die Vorstellung dieses interessanten Buches und die schöne Form, die Du dafür gewählt hast, liebe Ellen.
Über das von Dir erwähnte Referendum muss ich immer mal wieder nachdenken, haben doch die Menschen in allen Wahlkreisen Irlands (mit Ausnahme eines einzigen in Donegal) für die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt. Ich vermute, aufgrund von herablassenden Äußerungen, die ich immer wieder höre, dass es sich gerade in den ländlichen Gegenden eher um ein Signal gegen die Kirche gehandelt, die den Menschen allzu lange vorschreiben wollte, wie sie zu leben haben, als um ein klares und stabiles Zeichen der Toleranz und des Respekts. Ich irre mich freilich gerne . . .
Ja, herablassende Äußerungen gibt es sicher noch immer genug. Und auch das Signal an die Kirche könnte ich mir bei so manchen vorstellen. Andererseits ist es ein absolut monumentaler Schritt. Und ich bin Optimistin. Egal aus welcher Motivation, das Referendum ebnet zumindest den Weg für eine tolerantere, respektvollere Zukunft. Das haben so viele andere Länder noch nicht geschafft.
Stimmt. Wir können überhaupt froh sein, in einem Land zu leben, in dem die Bürger- und Freiheitsrechte (aufgrund des großen Nachholbedarfs) noch immer ausgebaut werden, während in vielen anderen Ländern, auch in Europa, die Uhren gerade rückwaärts gehen.
Seh ich genauso. Es gibt sicher viel aufzuholen. Gäbe es aber eben auch in anderen Ländern Europas. Insofern, halten wir uns die Daumen, dass es anhält.