Der stille Held, abgelichtet vor dem Royal Marine Museum, Dun Laoghaire

»Tom Crean war auf seine Art einzigartig; er erinnerte an eine Figur von Kipling oder Masefield, typisch für das Land, aus dem er stammte, und ein großer Gewinn für die drei Expeditionen, an denen er teilnahm. Ich muss nur einen Moment lang die Augen schließen, um mir seine adrette Gestalt und das Lächeln in Erinnerung zu rufen, mit dem er mich eines Morgens verabschiedete: „Leben Sie wohl, Sörr.“« (S. 10 & 12)

 

Ein Ire in der Antarktis:
Die unglaubliche Geschichte des Tom Crean

 

Tom Crean – Der stille Held, von Michael Smith, übersetzt von Rudolf Mast

Rezensiert von Ellen Dunne

Robert Falcon Scott. Roald Amundsen. Ernest Shackleton. Namen, die mir seit der Schulzeit ein Begriff sind, als tragische Abenteurer, kühl kalkulierende Gewinner und heroisch Gescheiterte. Und ich muss zugeben, darüber hinaus habe ich mich lange nicht weiter mit den Details ihrer Reisen beschäftigt. Und mich schon gar nicht gefragt, wer ihnen diesen Platz in der Geschichte ermöglicht hat. Dann erzählte mir mein Mann nach der Rückkehr von einem Wochenende in Dingle von seinem Besuch im South Pole Inn in Anascaul – und brachte eine englische Biographie über dessen ehemaligen Besitzer Tom Crean mit nach Hause. Ein Ire, der nicht nur bei Scotts, sondern auch bei Shackletons Südpol-Expeditionen mit dabei gewesen war.

Eigentlich bin in unserem Haushalt ich fürs Bücherfressen zuständig, doch diesmal konnte ich meinen Mann kaum von den Seiten loseisen und hörte noch viele geradezu fantastisch anmutende Erzählungen über das Leben eines Iren, das ebenso außergewöhnlich wie lange in Vergessenheit geraten war. Zu Unrecht. Denn die bereits 2000 auf Englisch erschienene Biographie des englischen Journalisten Michael Smith ist 2021 nun endlich auch auf Deutsch im mare Verlag erschienen.

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Aus dem Regen in die Kälte: Werdegang eines Bauernsohnes aus Kerry

Tom Crean führte bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr das typisch entbehrungsreiche Leben der irischen Bauernkindes in Kerry, belastet von den Nachwirkungen der Hungersnot, mit zahlreichen Geschwistern und null Zukunftsperspektiven. Nicht zuletzt auch „dank“ der britischen Herrschaft, denn von der Unabhängigkeit war Irland zu jener Zeit noch weit entfernt. Mit 15 verließ Crean Irland und begann die von Härte und strengster Hierarchie geprägte Ausbildung in der britischen Marine. Nach zehn Jahren Dienst verschlug es ihn im Jahr 1900 erstmals in den Dunstkreis der Polarexpeditionen und ihren großen Namen.

Tom Crean hatte ein großes Herz für Hunde

Diesen Lebensabschnitt handelt Smith innerhalb von gerade mal 20 Seiten (inkl. Bildern) ab, bevor er sich ausführlichst mit den drei Polarexpeditionen beschäftigt, bei denen Tom Crean ein immer wichtigerer Akteur wurde. Zwei davon mit Robert F. Scott, einmal mit dessen so wie Crean aus Irland stammenden Rivalen, Ernest Shackleton. Die Chronik von zwei atemberaubenden Martyrien, die Michael Smith hier nicht nur in großer Detailtreue, sondern auch absolut spannend erzählt. Dabei mischt er Auszüge aus schriftlichen Dokumenten mit Bildern sowie äußerst greifbaren Beschreibungen von Natur und den Menschen als unwillkommene, hoffnungslos unterlegene Eindringlinge.

Die Scott-Expeditionen: Ehrgeiz, Hybris und Tragödie

»Der riskante Marsch setzte sich aus drei Etappen zusammen. Zunächst ging es 370 Kilometer über das 3000 Meter hohe Polarplateau, dann wartete der 190 Kilometer lange Abstieg über den zerschrundenen Beardmore-Gletscher, und schließlich waren 640 Kilometer über das einförmige Schelfeis zurückzulegen.« (S. 78)

An die Grenzen der physischen Belastbarkeit wurden Männer wie Crean nicht nur von den Widrigkeiten des Klimas gebracht, sondern auch von den Fehlentscheidungen ihrer Expeditionsleiter. Gerade auf Robert F. Scott – von der Geschichtsschreibung zum edlen Helden stilisiert – fällt ein etwas realistischeres Licht, in dem sich Verantwortungslosigkeit, blinder Ehrgeiz und der Hybris der herrschenden britischen Oberklasse zeigen. Seine hartnäckige Weigerung, von seinem norwegischen Rivalen Amundsen und dessen Erfahrung mit hartem Klima zu lernen, bedeutete eine unnötig größere Tortur für seine Mannschaft, und kostete Scott nicht nur den Sieg im Wettlauf um den Südpol, sondern auch sein Leben – sowie das von weiteren Expeditionsteilnehmern.

Währenddessen wuchs der bescheidene Bootsmann Tom Crean im Hintergrund zum unerschütterlichen Ruhepol in der Mannschaft, der allen ringsum Respekt abnötigte – nicht nur mit seiner Ausgeglichenheit, Zähigkeit und Loyalität, sondern auch durch seine Tierliebe und mehrfach als „typisch irisch“ bezeichnete Umgänglichkeit:

»Crean war ein Mann, dem es nichts ausgemacht hätte, zum Pol zu gehen, ohne zu wissen, ob dort der Herrgott oder der Teufel auf ihn wartete. (…) Im Winter war es zum wiederholten Male Crean, der entscheidend dazu beitrug, dass sich die Stimmung der erschöpften Mannschaft aufhellte.« (S. 228, Zitat des Terra Nova-Mannschaftsmitgliedes Gran)

Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Crean selbst mindestens zweimal während der Reisen nur knapp dem Tod entronnen war – einmal durch einen Unfall, sowie bei seinem über 50 Kilometer langen Solo-Gewaltmarsch zurück ins Basislager, mit dem er einem weiteren Mannschaftsmitglied das Leben rettete. Noch erstaunlicher für mich – dass Crean sich nach so vielen Strapazen und überstandener Lebensgefahr zu noch auf eine weitere Polarexpedition einließ.

Menschenkraft statt Schlittenhunden auf Scotts Polexpedition

Die Shackleton-Expedition: Natur und Mensch in einem ungleichen Kampf  

Als Shackletons Schiff,  die Endurance*, bereits zu Beginn der Expedition im Packeis eingeschlossen und schließlich davon versenkt wird, beginnt die Odyssee seiner 28köpfigen Mannschaft erst. Die treibt auf nicht mehr als einer größeren Eisscholle hunderte Kilometer vom eigentlichen Zielort entfernt im Nichts. Im Chaos des Ersten Weltkrieges vermisst und sucht sie niemand. So müssen sie sich mit drei Rettungsbooten und einem einzigen Navigator an Bord durch den stürmischen und unberechenbaren Südpazifik schlagen. Stranden auf einem unbewohnten Eiland und senden jene, die noch in der Lage dazu sind, in einem Rettungsboot los um auf einer Walfangstation Hilfe zu holen – 1300 Kilometer weiter entfernt, und mit dem antarktischen Klima als unbarmherzigen Gegner. Unter ihnen Tom Crean.

Wer diese Geschichte von einem über 500 Tage dauernden Überlebenskampf kennt, mag hier im Gegensatz zu mir nicht mehr viel neues erfahren. Alle anderen werden auf den zweihundert der Expedition gewidmeten Seiten eine Geschichte mit so vielen Wendungen, so vielen Hochs und Tiefs miterleiden, die man im Rahmen eines Thrillers als absolut unglaubwürdig abtun würde. Dabei hält Michael Smith seinen Fokus auf den unerschütterlich wirkenden Crean, der sich auch nach unzähligen Rückschlägen noch mit einem Lied auf den Lippen zu motivieren vermochte.

Tom vom Pol: Bescheidenheit bis zum Schluss – nicht nur freiwillig

Im Gegensatz zu Scott und dem schillernden Shackleton schien Tom Crean dabei nie vorgehabt zu haben, in die Geschichte einzugehen. Von ihm liegen wenige schriftliche Dokumente vor, er führte kaum Tagebuch und schrieb selten Briefe. Es ist Michael Smiths Akribie zu verdanken, dass Crean durch die Beobachtungen, Aufzeichnungen und wenigen Fotos anderer Teammitglieder eine angemessene Anerkennung zukam.

»Crean, der eindrucksvoll bewiesen hatte, dass er über herausragende Fähigkeiten als Polarreisender verfügte, zeigte nun eine andere Facette seines Charakters – die Gabe, andere zu unterstützen und dabei selbst im Hintergrund zu bleiben.« (S. 393)

Crean und Alfred Cheetham, ein weiteres Expeditionsmitglied

Diese Bescheidenheit erhielt sich Crean offenbar bis zum Schluss. Nach der überstandenen Höllenfahrt der Endurance hatte er trotz Shackletons Überredungsversuchen zu einer erneuten Expedition genug vom Abenteuer. Tom Crean kehrte zurück in seinen Heimatort Anascaul, heiratete, gründete eine Familie und überließ seiner Frau Nell bereitwillig das Ruder des gemeinsamen Pubs South Pole Inn. Als „Tom vom Pol“ bekannt, sprach er bis zu seinem Lebensende mit gerade mal Anfang 60 sehr wenig über seine Erlebnisse. Nicht nur aus freien Stücken, so vermutet Smith. Denn die Grafschaft Kerry war republikanisches Kernland zu jener Zeit, Diener der englischen Krone waren ungern gesehen und so wollte auch der notorisch umgängliche Crean nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Zum Glück für die lesende Nachwelt ist ihm das nicht ganz gelungen.

 

Meine Meinung

Detailliert, differenziert und mitreißend erzählt der Journalist Michael Smith von einem Iren aus einfachsten Verhältnissen, der zu einem der wichtigsten Akteure der britischen Polarexpeditionen wird und trotzdem stets im Hintergrund bleibt. Tom Creans Resilienz angesichts unwahrscheinlicher Härten und Widrigkeiten ist noch heute eine Inspiration. Und nebenbei eine unvergessliche, wahre Geschichte.

 

Tom Crean – Der stille Held, Überlebender der Antarktis
Michael Smith, übersetzt von Rudolf Mast
Erschienen im mare Verlag, 446 Seiten
Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7 für 26 €

Vielen Dank dem mare Verlag für das von mir angeforderte Rezensionsexemplar!


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


* In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass Forscher den gesunkenen Dreimaster Endurance in einer Tiefe von 3000 Metern im antarktischen Weddellmeer in erstaunlich intaktem Zustand gefunden haben.

Fotos:  Titelfoto von Ellen Dunne, Bilder von Tom Crean von Frank Hurley auf Wikimedia Commons, Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)