»Als wir ihn finden, liegt er schon stundenlang in seinem Kot.« (S. 9)

Da hingehen, wo es weh tut: zutiefst persönliche Essays für eine ganze Generation

 

Emilie Pine – Botschaften an mich selbst, übersetzt von Cornelia Röser.

Rezensiert von Ellen Dunne

Schon der erste Satz in Emilie Pines Botschaften an mich selbst nimmt keine Gefangenen. Denn es ist ihr Vater, um den es hier geht. Nach vier Jahrzehnten Alkoholsucht droht sein Körper endgültig aufzugeben. Emilie und ihre Schwester fliegen von Irland nach Griechenland, wohin er sich von der Familie zurückgezogen hat, und versuchen, ihn in einem fremden Land mit einem maroden Gesundheitssystem, irgendwie wieder auf die Beine zu bringen. Dabei finden sie sich nicht nur in der Rollenumkehr wieder, wie sie sich für so viele Kinder alternder Eltern vollzieht – auch schmerzvolle Erinnerungen an das dysfunktionale Verhältnis mit dem Vater werden wach. Ein Text von gerade einmal 45 Seiten, der mich atemlos zurückgelassen hat in seiner Offenheit und seinem rohen Schmerz. Und das ist erst der Anfang …

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Persönliche Erfahrungen mit universellem Anspruch

Bis zu ihrem Überraschungserfolg mit Botschaften an mich selbst im Jahr 2018 war die 1977 geborene Emilie Pine vor allem als akademische Autorin aufgetreten. Bis heute lehrt sie Modernes Drama am University College in Dublin. Ihre Sammlung an Essays ist sowohl Verarbeitungsstrategie als auch Literatur, wurde aber 2018 als Irish Book of the Year ausgezeichnet und auch international erfolgreich. Letztes Jahr erschien endlich die deutsche Übersetzung. Denn worüber Emilie Pine spricht, ist zugleich zutiefst persönlich als auch universell für das Leben vieler Frauen ihrer Generation.

Freimütig breitet sie darin an ihrem persönlichen Beispiel Themen aus, über die bis vor sehr kurzem gar nicht, und jetzt noch ungern gesprochen wird, denn es sind „Frauenthemen“. Ja, und bitte jetzt nicht abschalten, geschätzte andere Hälfte der IrlandNews-Leserschaft – es geht um die großen und zugleich alltäglichen Dinge: um ungewollte Kinderlosigkeit, um Menstruation, um sexuelle Gewalt und die strukturelle Benachteiligung der Frauen im akademischen Betrieb (und allgemein), um das von Scham begleitete Aufwachsen in einer getrennten, zerrissenen Familie in einer Zeit, in der Scheidung in Irland noch keine Option ist. Das ist schonungslos. Das tut weh, ein ums andere Mal.

»Als es vorbei ist, sagt mir die Ärztin, dass Frauen die Schmerzen dieser Untersuchung oft mit denen einer Geburt vergleichen. Sie nennt mich eine Heldin und rät mir, ein paar Ibuprofen zu nehmen. Und dann sagt sie, dass es keine Blockaden und krankhaft veränderte Schleimhaut, keinen problematischen Eileiter gibt. Ich sollte mich freuen, aber mir wird bewusst, dass ich mir gewünscht hatte es gäbe irgendetwas Konkretes, das mit mir nicht in Ordnung wäre. „Gibt es heute noch etwas anderes, Emilie?“, fragt die Ärztin. Da ist so viel anderes. Reparier mich, möchte ich gern sagen. Aber vielleicht bin ich nicht zu reparieren.« (S. 84)

Was bedeutet es, Frau zu sein, in Irland und anderswo?  

Radikale Selbstentblößung ist seit Knausgaards Nabelschau-Zyklus „Mein Kampf“ kein neuer Trend mehr in der Literatur. Auch Emilie Pine dringt vor in intimste Bereiche, bringt immer wieder Gedanken zur Sprache, die so viele haben aber sich so wenige eingestehen. Aber nicht ausufernd-philosophisch sondern knapp und mit der so irischen Ironie gewürzt. In trügerisch einfacher Sprache legt sie gnadenlos den Finger in die Wunde, wenn es um die Widersprüche und gesellschaftlichen Begrenzungen geht, mit denen Frauen trotz der Fortschritte in der Gleichberechtigung noch immer kämpfen.

„Ich wollte immer gemocht werden. In diesem Punkt bin ich genau wie andere Frauen. Frauen wollen liebenswert sein. Frauen sollen liebenswert sein. Und Frauen werden verurteilt, wenn sie nicht liebenswert genug sind. Aber so sehr Liebenswertsein gesellschaftlich wünschenswert ist, im beruflichen Kontext bremst es uns. Am Ende sind wir so mit der ganzen Seelsorgearbeit und dem langweiligen Papierkram, den Millionen ungewollter Aufgaben beschäftigt, dass uns anscheinend nie die Zeit bleibt, um Anerkennung einzufordern. (…) Man sagt uns, wir sollten weniger gutherzig, weniger kompromissbereit, weniger nett sein. Schließlich kommen nette Mädchen nicht in die Chefetage. Männer werden Frauen bei Beförderungen vorgezogen, weil sie, na klar, mutig, kühn, kompromisslos waren.“ (S. 207)

Ja, ja, ja, mögen manche jetzt sagen. Ist doch alles längst ausgefochten. Und sind das nicht westliche Luxusprobleme? Und hat man alles schon oft gehört? Dazu sage ich: Nein. Denn Feminismus ist einer der wichtigsten Schlüssel unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Und – man hat es vielleicht schon gehört, aber nicht oft genug. Und nicht so klar. So plastisch und nachvollziehbar und herzzerreißend und herausfordernd für die Magengrube, dabei so gut lesbar. Deshalb gehen Emilie Pines Botschaften nicht nur sie selbst, sondern uns alle etwas an.

Meine Meinung

Ein kraftvolles, stark geschriebenes und oft aufwühlendes Manifest darüber, was es bedeutet, Frau zu sein, in Irland und darüber hinaus. Jede sollte es lesen, und erst recht jeder.

 

Botschaften an mich selbst
Emilie Pine, übersetzt von Cornelia Röser
Erschienen im btb Verlag, 218 Seiten
Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim
fairen Online-Buchhändler Buch7 für 20 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


 

Fotos:  Titelfoto von Ellen Dunne, Foto Emilie Pine (© Ruth Connolly), Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)