»Alle drei Drumm-Brüder waren auf der Beerdigung, einer von uns allerdings im Sarg.«

(S. 9)

 

Eine schrecklich toxische Familie

 

Kleine Grausamkeiten, von Liz Nugent,
übersetzt von Kathrin Razum.

Rezensiert von Ellen Dunne

Es ist ein ebenso brutales wie effizientes Statement, mit dem die irische Spannungsautorin Liz Nugent sofort in ihren vierten Roman zieht. Die Familie Drumm ist nach außen hin eine Vorzeigefamilie – die Mutter Margaret früher erfolgreiche Theaterschauspielerin, der um einiges ältere Vater übernimmt einen großen Teil von Haushalt und Sorgearbeit für die Söhne William, Brian und Luke. Doch die Drumms sind ein Pulverfass. Die Geschwisterrivalität zwischen den drei ungleichen Brüdern keimt früh, mehr oder weniger bewusst angestachelt von der ebenso unberechenbaren wie unglücklichen Mutter. Der stabilisierende Vater stirbt früh, der gegenseitige Groll wächst über die Jahre. Bis er tödliche Blüten treibt.

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Liz Nugent: International erfolgreich mit Domestic Noir

Wer kennt sie nicht, die kleinen – und größeren – Verletzungen, die uns die zufügen, die uns am nächsten stehen? Von den Sticheleien der Geschwister, den (meist unbeabsichtigten) Fehlern der Eltern? Vom vermeintlich sicheren Zufluchtsort zum Tatort: Domestic Noir, so nennt sich das Sub-Genre der Kriminalliteratur, das sich mit den Untiefen unseres Familienlebens auseinandersetzt und sich seit Gillian Flynns Megaseller „Gone Girl“ im Jahr 2012 fest etabliert hat. Die Journalistin Liz Nugent hat diese Nische als eine der ersten irischen Autorinnen besetzt. Seit ihrem Bestseller-Debüt „Unravelling Oliver“ (auf Deutsch: Die Sünden meiner Väter) wählt sie immer wieder das klebrige, manchmal toxische Beziehungsgeflecht mit unseren Lieben als Dreh- und Angelpunkt ihrer psychologischen Spannungsromane. „Our little Cruelties“ ist ihr vierter Roman – und hat es in der deutschen Übersetzung „Kleine Grausamkeiten“ an die Spitze der Krimibestenliste der literarisch anspruchsvollen „Zeit“-Jury geschafft. Nicht mit blutigen Morden, sondern mit einem langsam köchelnden Familiendrama mit tödlichem Ausgang.

Nadelstiche anstatt Blut: Unsichtbare Grausamkeiten im Alltag

»Mum nahm sehr wohl wahr, dass er keine Freundin hatte und sprach es in ihrer üblichen, wenig subtilen Weise an: „Liegt es an deiner Nase?“, fragte sie. Brian hatte eine verkrümmte Nasenscheidewand, was bedeutete, dass eins seiner Nasenlöcher breiter als das andere und seine Nase ein kleines bisschen schief war. Was man aber nur bemerkte, wenn man darauf hingewiesen wurde. „Das kommt aus deiner Familie“, hatte Mum früher immer gesagt, worauf Dad genickt und bestätigt hatte, dass sein Vater „einen Mordszinken“ gehabt habe. Uns fiel Brians Nase nie auf, weil sie einfach zu ihm gehörte, aber Mum sprach hinter vorgehaltener Hand von seiner „Entstellung“. Als Jugendlicher hatte er irgendwann mal gefragt, ob es eine Operation gebe, mit der seine Nase korrigiert werden könne, aber Mum hatte ihn ausgelacht. Für ein Mädchen mochte es akzeptabel sein, sich etwa die Zähne richten zu lassen, aber das Aussehen eines Jungen oder Mannes war lange nicht so wichtig.« (S. 23-24)

Seelische Grausamkeiten wie diese kommen beiläufig, fast banal daher und brauchen kein Blutvergießen für ihre Sogwirkung. Abwechselnd erzählen die ungleichen Brüder William, Brian und Luke ihre Perspektive auf die eigene Kindheit. Ergänzen die Geschichte bis zum Schluss zum Sittenbild einer Familie, deren dysfunktionalen Beziehungen den Stoff zu einer Art modernem Shakespeare-Drama verweben. Dabei bleiben die Brüder ihrer piesackenden Mutter nichts schuldig. William, Golden Boy und Mamas Liebling wird erfolgreicher aber rücksichtsloser Filmemacher, der labile Luke wird zum Teenie-Star und Junkie, während der farblose Brian den ewig vernünftigen Vermittler im Hintergrund gibt, nur um im entscheidenden Moment seinen verschlagenen Raubtierinstinkt zu offenbaren. Nein – sie alle sind keine Sympathieträger, aber vielschichtige, und dadurch interessante Charaktere, deren Zusteuern auf das unvermeidliche, bittere Ende trotzdem nicht loslässt.

Shakespeareskes Drama im Dublin der 80er bis heute

Die Lektüre von Kleine Grausamkeiten fühlt sich immer ein bisschen voyeuristisch an. Kaum eine allzu menschliche Schwäche, die sich nicht im Mikrokosmos der Familie Drumm vereint. Dazu kommen vor allem für Fans des zeitgenössischen Irlands sehr unterhaltsame Referenzen auf das Leben in Dublin und deren Künstler- und Celebrity-Szene, die Liz Nugent als Journalistin und ehemalige Riverdance-Bühnenmanagerin sicher aus erster Hand kennt.

»Die Peinlichkeiten begannen damit, dass Mum quer durch die riesige Eingangshalle nach Bono rief. Soviel zum Thema, wir sollten die Stars nicht belästigen. Mum war Bono noch nie begegnet, aber weil sie berühmt war, ging sie davon aus, dass er sie kannte. Mum war fast alt genug, um Bonos Mutter zu sein. Er war mir altersmäßig näher als meiner Mutter. Er nickte höflich in unsere Richtung. Mum schob mich vor sich her.

„Ah, Bono, hallo! Unser William hier ist ein großer Fan von Ihnen. Er hat sogar einen U2-Kaffeebecher zu Hause, stimmt’s?«

(S. 77)

Das mag keine fein gedrechselte Hochliteratur sein. Doch die scharf beobachteten Fallstricke des quälenden Zusammenlebens mit der genetischen Familie fühlen sich oft schmerzhaft bekannt an. Und als das lang dräuende Unheil schließlich in der Katastrophe für so gut wie alle endet, hat es eine Unvermeidlichkeit, die einen mit mulmigem Gefühl in der Magengrube zurücklässt. Weil es nur einen halben Schritt entfernt scheint von der täglichen Realität der Familientragödien, die wir aus den Schlagzeilen kennen.

Meine Meinung

Spannungsroman und Familiendrama: Kleine Grausamkeiten von Liz Nugent ist beides. Mit stacheligem Witz und viel Lokalkolorit für Dublin-Insider erzählt Nugent über eine Geschwisterrivalität in extremis, die alle Beteiligten, aber auch unbeteiligte Nebenfiguren in den Abgrund reißt. Kaum eine der Figuren erregt dabei echte Sympathie, dank Liz Nugents versiertem Schreiben tut das der morbid-voyeuristischen Faszination aber keinen Abbruch.

Kleine Grausamkeiten

Liz Nugent, übersetzt von Kathrin Razum
Erschienen im Steidl Verlag, 393 Seiten
24 Euro

Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen Online-Buchhändler Buch7

* Leseexemplar zur Verfügung gestellt vom Steidl Verlag* 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


Fotos:  Ellen Dunne privat, Portrait Ellen Dunne (© Orla Connolly)