Glaube nur der Statistik, die Du selber gefälscht hast
(Alte Marketingweisheit, nicht von Winston Churchill)
Wir leben im Ferienland, im äußersten Südwesten Irlands – in maximaler Distanz zur umtriebigen Hauptstadt und zum Wirtschafts- und Finanzzentrum Dublin. Westlich und südlich von uns nur Wasser, der Atlantik, im Norden die Berge und in östlicher Richtung 80 Kilometer sicherer Abstand zur geschäftigen Südmetropole Cork. Hier scheint die Zeit ein wenig stehen geblieben, hier vor den Dorf- und Natur-Fassaden des alten Irlands dürfen wir noch träumen.
Wir haben hier in ruhigeren Zeiten fast zwei Jahrzehnte vom Feriengeschäft ganz gut gelebt. In den fortgeschrittenen Zehnerjahren leckten die halbstaatlichen Tourismusvermarkter in Dublin dann richtig Blut. Sie pushten Marketing-Konstrukte wie den Wild Atlantic Way und freuten sich über die Millionen, die sie damit ins Land lockten. Sie hatten begonnen, die Insel dem Massentourismus auszuliefern. Im Jahr 2019 wurden 6,8 Millionen Insel-Iren (inklusive Nordirland) von knapp elf Millionen Touristen aus dem Ausland besucht. Rekord. Wir beschlossen, nicht länger Teil der massentouristischen Reiseindustrie zu sein. Dann kam die Verbotspolitik der Pandemie. Irland wurde und blieb zwei Jahre lang geschlossen, der Tourismus machte Pause.
Nach den Coronajahren feierten sich die Reisevermarkter für die rasche Erholung und das großartige Comeback der Destination Irland. Gleichzeitig vollzogen sie einen Strategiewechsel in der Darstellung der Ergebnisse und eventuell auch in der Wahl der Zielgruppen: Man wolle nun nicht mehr reine Masse machen, sondern sich mehr auf zahlungskräftige Gäste konzentrieren, die viel Geld im Land ließen. Da waren die Fakten allerdings schon geschaffen: Die Zahl der Urlauber hatte sich von 2019 auf 2023 fast halbiert – und wer in das zweit-teuerste Land Europas reist, muss sich das leisten können. Im Jahr 2023 wurden 6,3 Millionen internationale Gäste gezählt, für 2024 weist die Statistik 6,6 Millionen ausländische Touristen aus.
Hier in den Bilderbuchlandschaften an der Atlantiküste erlebten wir 2023 und 2024 als touristisch sehr ruhige Jahre. War nicht gerade anfang August, wenn der Inlandstourismus auch in West Cork boomt, dann blieben Verkehr und Urlauberdichte sehr überschaubar. Die subjektive Wahrnehmung scheint sich mit der offiziellen Interpretationen der Tourismusverantwortlichen zu decken. Diese haben längst aufgehört, absolute Gästezahlen zu feiern, nennen statt dessen positive Trends, die Zahl der Übernachtungen und vor allem die Ausgaben der Touristen, die die Einnahmen für die Gastgeber sind. Besonders gut sieht es nämlich bei den Tourismusumsätzen aus: Waren es 2019 etwa 7,3 Milliarden Euro, dann kam man 2024 immerhin wieder auf über sechs Milliarden Euro. Der relative Erfolg ist fast ausschließlich den Amerikanern zu verdanken. Während die ebenfalls gehätschelten Wohnmobilisten wenig Geld im Land lassen, geben US-Amerikaner im Durchschnitt fast dreimal so viel für ihren Irlandurlaub aus wie Europäer. XXL eben, wie es sich für die Greatesten gehört.
Die neue Regierung mit dem neuen Tourismusminister und dem neuen Ministerium für Unternehmen, Tourismus und Beschäftigung hat derweil eine noch neuere Tourismus-Strategie angekündigt und erklärte die Tourismusbranche neben anderen explizit zum „wirtschaftlichen Wachstumsmotor“. Ob das ein Zurück zur Masse bedeutet, falls die Massen wieder nach Irland kommen wollen, bleibt abzuwarten; ebenso, ob die neue Regierung bereit ist, zum Schutz der natürlichen Welt mehr zu tun als die Vorgängerregierungen. Denn immerhin gilt die vermeintlich wilde Natur am Atlantik noch immer als größte Ressource von Ferien-Irland.
Grund zum Handeln gibt es genug: In der Klimapolitik ist Irland das Land in der EU, das seine Ziele bis 2030 – Stand heute – am deutlichsten verfehlen wird. Abfall- und Recyclingwirtschaft bilden das Schlusslicht in Europa. Die Gewässer sind in einem schlechtem Zustand. Die mächtige tierdominierte Landwirtschaft verteidigt ihre Pfründe erfolgreich. Von Artenschutz und Naturschutz keine Spur, das Artensterben gallopiert, während der Landverbrauch angesichts des großen Wohnraummangels und des strammen Bevölkerungswachstums drastisch zunimmt – zumal die Regierung verdichtetes Bauen bis heute nicht ernst nimmt. Irland ist ein ganz normales Land mit ganz normalen Problemen geworden. Dass die Zerstörung und der Zerfall andernorts noch größer sind, könnte bald zum wichtigsten Trumpf im Kampf um Urlauber werden.
Wir leben im Ferienland, im äußersten Südwesten Irlands. Hier hinter den Dorf-Fassaden gibt es wenig wirkliches Dorf und allzu viele monatelang leerstehende Ferienhäuser, es gibt leuchtend grüne Natur-Kulissen mit wenig Leben darin. Ob Einheimische oder Wahlheimische: Die Entscheidungen werden über unser aller Köpfe hinweg in Dublin getroffen oder ausgesessen – im Zentrum der kleinen irischen Macht, in maximaler Distanz zur ländlichen Ferienware.
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Fotos: Markus Bäuchle
Lieber Markus vielen herzlichen Dank für diese nachdenklichen Worte.
Und lieber Lorenzo (ich glaube schon, dass Dein Beitrag hier her gehört) :
Du hast es wieder sehr schön gelassen betrachtet… seit langem betrachte ich menschliches Tun fast genauso wie Du es hier beschreibst.
Es gibt etwas, das Menschen irgendwie noch nicht verstanden haben: nicht nur in der Medizin ist ungesteuertes Wachstum (Krebs) tödlich. Wir SIND ein Winzigteil der großen Natur und unterliegen deren überall gültigen Gesetzmäßigkeiten die immer zum Wachstum auch eine Bremse beinhalten. Da wo der Mensch dagegen verstößt wird er es zu spüren bekommen. Überall. Immer. Der Natur ist das egal…
Inseln sind – eben weil sie ein begrenztes Stück Welt darstellen- in allem begrenzt: im Raum den man sich teilt, in den Ressourcen wie Land, Wasser, Luft und in wichtigen Dingen des Alltags wie Elektrizität, Nahrung und Ruhe… Das braucht schon für die, welche dort dauerhaft leben eine gute Ausgewogenheit.
Wenn Tourismus dann zur einer Inselmarke gemacht und zu stark gefördert wird, leiden alle.
Anfangs unmerklich, irgendwann aber sehr stark. Die Natur wird mehr und mehr zerstört, neue Wege und Strassen „erschließen“ selbst einsamste Ecken, die überall in den Orten in Massen monatelang leerstehenden Ferienhäuser entwickeln sich langsam zu Fensterhöhlen des Grauens, weil der Wohnraum der heimischen Bevölkerung fehlt (die aber im Teufels-kreislauf wiederum durch Ferienhäuser weit mehr verdient als sie es durch Vermietung/Verpachtung jemals könnte) und auch Wasser wird dann zu einem immer mehr umkämpften Gut…
All das und noch vieles jetzt nicht dazu Gesagte, führt dazu, dass irgendwann auch die Stimmung der Besuchten an besonders beliebten (und entsprechend heimgesuchten) Orten umschlägt: GENUG !
Ob es Mallorca ist, wo eine einstmals Halb – Grüne Regierung der Balearen vom Massen Tourismus a la Ballermann weg wollte zu mehr Qualitätstourismus und nun all die oben genannten Probleme beklagt werden… ob es griechische oder italienische Inseln sind die mit genau den gleichen Problemen mittlerweile kämpfen oder ob es die Ostfriesischen Inseln sind, die ebenfalls nach Auswegen aus dieser Misere suchen… : Es geht nur über mehr Gemeinschaft (was allerdings diametral zum Egoismus im Kapitalismus steht), wo die über Qualität hereingeholten Einnahmen auch allen vor Ort zu Gute kommen für schonende Erneuerung der Infrastruktur, Schutz der Natur, Schulprojekte, Altenbetreuung… etc.
Das wiederum setzt aber andere staatliche Verteilmechanismen der Einnahmen voraus…
Eine einmal vom Massentourismus überrollte Erdregion wieder in gesunde Ursprünge eines small is beautiful (Tourismus und Alltagsleben betreffend) zurück zu entwickeln scheitert meistens an den dortigen Menschen selbst, die nichts wieder hergeben wollen (Geld und Einfluss)… auch das ist aber nur allzumenschlich… meistens bedarf es einer riesigen Katastrophe, nach der alles neu geordnet wird…
Und es geht auch über das Privateigentum, wenn da sehr verantwortungsbewußte und überwiegend (keineswegs nur) sehr reiche Menschen sind, die einen ganzen riesigen oder kleinen Lebensraum der ihnen gehört vor so einer Massenflutung strikt schützen…
Und hier möchte ich eigentlich einen Bogen schließen zu John Moriarty, Dein letzter Absatz Lorenzo könnte fast aus seiner
oder meiner Feder stammen… jeder muß ganz direkt bei sich selbst beginnen, diese Welt zu heilen…
Lieber Markus, vielen Dank für diesen interessanten und auch zuweilen «erschreckenden» Beitrag des «Wachrüttelns. Wir erleben eine Zeit der Umbrüche – und fühlen uns oft hilflos zwischen den taumelnden Kräften dieser Welt. Doch diese Umbrüche sind kein Novum. Die Menschheit durchläuft sie in Zyklen, seit es uns gibt. Zeiten der Eskalation wechseln sich mit Momenten der Selbstregulation ab – so wie wir es während der Corona-Pandemie erlebt haben, als Irland und sein Volk (und viele andere mehr) für kurze Zeit eine unerwartete Atempause erhielten.
Es ist, als ob jede Übertreibung, jede Raserei irgendwann ihre natürliche Grenze findet. Und während wir die Zerstörungen, die Ausgrenzungen und die Rückkehr zum Recht des Stärkeren beklagen, zeigt uns die Natur eine andere Perspektive: Ihr ist unsere Aufregung gleichgültig. Sie regeneriert sich – oder verwandelt sich in etwas völlig Neues. Die Erde könnte auch als glühende Lavakugel existieren, ohne uns und ohne Grün.
Doch uns Menschen ist die Natur nicht egal – sie ist unser Lebensraum, unser Ursprung und unser Überleben. Wer dies versteht, erkennt auch die eigene Verantwortung: In jeder Krise haben wir die Wahl, uns aus den kollektiven Angst- und Wutspiralen zurückzuziehen und stattdessen das zu nähren, was Leben schafft – in uns selbst, in unseren Familien, in unseren Gemeinden.
Wer sich dem Chaos bewusst entzieht, sich auf friedliche Missionen konzentriert und die Schönheit der kleinen Dinge wieder wahrnimmt, wird selbst zu einem Ruhepol. Und viele solcher individuellen Inseln der Klarheit können sich verbinden – zu einer neuen Welle, die nicht von oben gelenkt wird, sondern aus uns selbst entsteht. Irgendjemand sagte einmal: «Packen wir’s an, es gibt viel zu tun.» – wer immer sich dazu berufen fühlt und mag.
Lieber Lorenzo, steht Dein Kommentar unter dem richtigen Artikel?