Zutritt verboten

Old Head of Kinsale: Ende Gelände am großen Eingangstor

Gib es eine Hölle? Nachbarin Kate besteht darauf. Du bist in der Hölle, wenn Du dringend mal musst, und es ist weit und breit kein Örtchen in Sicht. In der Hölle wähnte sich mein Freund Brendan auf der Rückfahrt von Limerick nach West Cork, als sich ein kleines Bedürfnis meldete. Er fuhr und fuhr, vorbei an endlosen Hecken, an Toren und Gattern. Nein, in der Hauseinfahrt, das verbot sich von selbst. Die Hölle wollte kein Ende nehmen. Endlich nach 15 Minuten fand er den Ausweg aus seinem kleinen Inferno: einen offenen Feldweg. “Dabei wurde mir klar, wie wir unser Land total abgeriegelt und verbarrikadiert haben”, kommentierte Brendan später die Nöte.

Spätestens bei der Suche nach einem stillen Örtchen wird jeder Besucherin des ländlichen Irlands klar, wie wenig sie eigentlich vom Land zu sehen bekommt. Es ist wohl einfach, sich mit dem Auto auf den einschlägigen Straßen fortzubewegen, etwa die ausgewiesenen Aussichtspunkte des Wild Atlantic Way oder in Ireland´s Ancient East im Rekordtempo abzufahren. Auch die Wanderungen auf den zunehmend populären Kurz- und Fernwanderwegen gelingen zumeist. Wer aber einmal versucht hat, einen selbst gewählten Ort in der Tiefe des Landes anzupeilen und dann zu erreichen, der sieht sich schnell in der Sackgasse, oder zumindest in Gefahr.

Keep out!

 

Irland ist heute ein zugesperrtes Land, von einem dichten Netzwerk an Zäunen durchzogen und zerteilt, von ge- und verschlossenen Feldtoren abgeriegelt. Hier dominiert der unbedingte Glaube an das Privateigentum. Über 90 Prozent der Landesfläche, Wiesen, Felder, Flüsse, Seen, Berge und Küsten sind in privater Hand. Wenn die Eigentümer es erlauben, darf man deren Land betreten, wenn nicht, dann nicht. Der alte irische Landmann hielt es noch für eine Sünde, einen anderen Mann davon abzuhalten, über sein Land zu gehen. Er fürchtete sich vor der gerechten Strafe Gottes. In jener Zeit, in der den Frauen die Arbeit auf der Farm zugewiesen war – sie gingen deshalb eher nicht über fremde Felder – hatte ein Tor lediglich  die Funktion, das Vieh im Feld einzusperren. Heute soll es ebenso oft die Menschen aussperren. Oft prangen zur Verdeutlichung des Anliegens Schilder an den Feldtoren. Sie sagen in neutralem Ton “Private Property”, im subtilen “Beware of the Bull” und im rüden “Keep out”. Oft wird man auch im Juristen-Englisch über die rechtlichen Folgen für den Fall des Eindringens belehrt.

So bleiben den Besuchern viele der schönsten Orte Irlands versperrt und verwehrt. Beispiel Mizen Head. Die beliebte Touristen-Attraktion in West Cork wird jedes Jahr von  geschätzt 100.000 Menschen angefahren. Sie alle kommen und gehen mit dem Auto. Während Spaziergänger und Wanderer auf der Nordseite der Halbinsel, am Three Castle Head je nach Stimmungslage der Eigentümer auf Zugang in die faszinierende Küstenlandschaft hoffen dürfen, ist die Südseite von den Farmern komplett abgeriegelt. Der Besucher begnügt sich zwangsläufig mit dem Sträßchen und bestaunt eine der faszinierendsten Kulturlandschaften Irlands: rechts der Bergrücken, links die Klippen der Küstenlandschaft, dazwischen Felder und alte Mauern. Bis heute warten Wanderer vergebens auf einen Fußweg entlang der südlichen Mizen Peninsula. Dies ist für die grüne Insel recht typisch. Wer etwa versucht, in West Cork, in Kerry, im County Clare oder Galway auf eigene Faust und eigenen Wegen ans Meer zu gelangen, gibt meist frustriert auf: Die Fahrt oder der Spaziergang enden im Farmyard oder an verschlossenen Toren. Wer auf eigene Faust Berge besteigen will, macht vielerorts dieselbe ernüchternde Erfahrung. Er scheitert am Farmgürtel, der viele Berge abschirmt. Selbst etablierte, ausgewiesene Wanderwege sind nur zugänglich, solange die Grundeigentümer mitspielen. Wenn sie ihre Meinung ändern, gibt es keinen gesetzlichen Schutz, die Wege für die Öffentlichkeit offen zu halten.

 

Die stillen Orte in der abgeschlossenen Tiefe des Raumes

Nach vielen Wanderjahren in Irland führte ich vor der Pandemanie eine Wandergruppe auf der Isle of Skye in Schottland. Ich wusste um das schottische Right to Roam und konnte es doch kaum begreifen: Dort kann man überall, wirklich überall gehen, querfeldein, kreuz und quer, wie es beliebt. Einzige Bedingung: Besucher müssen sich an die allgemeinen Regeln halten und sich zivilisiert benehmen. Ich empfang reinstes Glück, wanderte dort mit einem Gefühl der Leichtigkeit und der Freiheit. Ein solches Gesetz des freizügigen Zugangs zur Landschaft wünschen sich seit Jahrzehnten auch Irlands Naturgänger. Um ihrem Anliegen Aussruck zu verleihen, organisieren sie sich in Vereinen und Bürgerinitiativen. Genützt hat es bislang wenig. Die Bekannteste nennt sich beschönigend Keep Ireland Open. Haltet Irland offen. Eigentlich müsste sie Öffnet Irland endlich heißen.

Immerhin darf Keep Ireland Open regelmäßig lokale Erfolge feiern. Vor einigen Wochen erstritten sie mit Gleichgesinnten vor Gericht, dass die eigenmächtig angebrachten Blockaden auf dem bekannten Vartry Trail in den Wicklow Mountains entfernt und der Rundweg wieder komplett zugänglich wurde. Zahlreiche andere, einst öffentliche Spazier- und Wanderwege wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten von besitzstolzen Eigentümern kurzerhand abgeriegelt, die Allgemeinheit ausgesperrt, Das berühmteste ist der Old Head of Kinsale, wo sich wohlhabende Golfplatzbesitzer und deren Gäste hinter einem hohen Tor verschanzen und egomanisch mit dem Segen irischer Richter eines der schönsten Kaps Irlands für sich okkupieren. Landesweite Berühmtheit erlangt hat auch der bislang erfolglose Rückeroberungskampf um Zugang zu Fenit Island bei Tralee im County Kerry oder zum Wicklow Head Lighthouse an Irlands Ostküste.

 

Die Leute von Keep Ireland Open wissen, dass sie sich auf einen Marathon eingelassen haben und sie geben nicht auf. Sie fordern unverdrossen ein belastbares nationales Gesetz, das die öffentlichen Wegerechte anerkennt, das die Belange der Allgemeinheit gegenüber Privatinteressen schützt, das den lokalen Behörden den Rücken frei hält, um vor Ort alte Pfade offen zu halten und neue Wege zu eröffnen, und das letztendlich die alte Agrargesellschaft mit der erstarkenden Freizeitgesellschaft versöhnt. Bis dieses Gesetz kommt, muss man sich in Irland jedenfalls keine Sorge machen, dass uns hier die stillen Orte, wie Irlandnews sie in einer Serie beschreibt, ausgehen könnten, oder dass deren Existenz in Gefahr wäre. Im ländlichen Irland sind die stillen Orte in der abgeschlossenen  Tiefe des Raumes noch immer die Regel, die Rummelplätze, etwa entlang des Wild Atlantic Way, die Ausnahme.

Fotos: Markus Bäuchle

Weitere Infos zum Thema: Keep Ireland Open, Website