Die Veränderung wagen.  Der Sommer steht vor der Tür, heizt sich vielerorts bereits im Frühjahr bedrohlich auf. Haben Sie noch Erinnerungen an die guten Vorsätze für dieses Jahr, gefasst damals im Dezember und Januar, in den Wochen zwischen dem Hoffen auf eine neue Normalität und dem neuen großen Krieg in Europa? Ich habe hier auf Irlandnews in den vergangenen Monaten dazu ermuntert, das Momentum der Veränderung so weit wie möglich in das neue Jahr zu tragen und zu pflegen, habe dafür regelmäßige Experimente der Reihe Mein Jahr des Aufhörens vorgeschlagen. Ein Monat ohne Fleisch, ein Monat ohne Milch, ein Monat ohne Zucker, ohne Plastik, ein Monat ohne Verurteilung anderer Menschen, ein Monat ohne Nachrichten, ein Monat ohne Facebook oder Instagram, ohne Auto, ein Monat ohne . . . Experimente, Ausprobieren, nichts Endgültiges.

Die durch uns Menschen verursachte Zerstörung der Erde hat in vielerlei Hinsicht bedrohliche Formen angenommen. Weil wir es immer gerne “mit” wollen, und selten “ohne”. Mit möglichst Vielem und immer Mehr – und wenn es geht, sofort. Wir aber sind die einzigen Lebewesen, die das Privileg haben, uns ändern zu können. Wir können mit dem Ständig-mehr-Wollen und damit auch mit dem Zerstören aufhören. Darin liegt unsere Hoffnung. Aufhören ist immer auch Neubeginn.

Aufhören im Mai? Ich wurde gefragt, was mein Experiment im Mai sei, warum nichts zu lesen ist, über “Aufhören im Mai”. Es ist ganz einfach: In der Schreibpause im April habe ich unter anderem beschlossen, mit dem Aufhören aufzuhören – nicht in meinem eigenen Leben, diese Experimente liebe ich zu sehr, um sie zu beenden. Ich werde aber nun nicht mehr hier auf Irlandnews darüber berichten. Wer Inspiration zur Lebensveränderung sucht, kann alle bereits erschienenen Beiträge hier nachlesen:

Mein Jahr des Aufhörens: Alle Beiträge zum Thema sind hier versammelt.
Und natürlich gibt es ein spannendes Buch zum Thema, das ich empfehlen kann . . .

 

Pause

Für eine neue Kulturtechnik des Aufhörens

Aufhören ist eine Kulturtechnik des richtigen Lebens, schreibt der Soziologe Harald Welzer in seinem neuen Buch Nachruf auf mich selbst. Man kann auch sagen, dass von unserer Fähigkeit, das Aufhören zu lernen, unser Überleben auf der Erde abhängt. Im folgenden ein paar Zitate aus Harald Welzers lesenswertem Buch:

“Naturverhältnisse, die unser Leben und Überleben sichern, kommen an ihr Ende, aber unsere Kultur hat kein Konzept vom Aufhören. Verbissen optimiert sie das Falsche, anstatt es einfach sein zu lassen. Die Moderne lebt von der Illusion der Grenzenlosigkeit, aber durch das 21. Jahrhundert kommen wir nur, wenn wir das Leben und das Wirtschaften im Modus der Endlichkeit verstehen.”

“Unsere Kultur hat kein Konzept vom Aufhören. Deshalb baut sie Autobahnen und Flughäfen für Zukünfte, in denen es keine Autos und Flughäfen mehr geben wird. Und versucht, unsere Zukunftsprobleme durch Optimierung zu lösen, obwohl ein optimiertes Falsches immer noch falsch ist. Damit verbaut sie viele Möglichkeiten, das Leben durch Weglassen und Aufhören besser zu machen. Diese Kultur hat den Tod genauso zur Privatangelegenheit gemacht, wie sie die Begrenztheit der Erde verbissen ignoriert.”

“So wie es eine Verwechslung war, Natur als den Hintergrund für das universale Selfie des Homo sapiens zu betrachten,  so erweist sich die Idee, man könne eine Natur, die per Klimawandel und Artensterben tagtäglich rückmeldet, dass es mit der vollständigen Naturbeherrschung leider nichts ist, durch immer noch bessere Technologie schließlich doch noch in den Griff kriegen, als Illusion.”

“Wenn man sich vor Augen führt, wie im Jahr 2021 zwei Regierungen, in denen GRÜNE und Sozialdemokraten sitzen, nämlich Berlin und Brandenburg, das komplett anachronistische Projekt einer Autofabrik feiern, die von einem Milliardär aus der Digitalwirtschaft mit Hilfe von Milliarden Euro Steuergeldern in den märkischen Snd bzw. einen zuvor zu rodenden Wald gesetzt wird, kommen alle denkbaren Abstraktionen von den Springquellen des Reichtums von Elon Musk wie unter dem Brennglas zusammen – geradezu irre, wenn man sich überlegt, dass dieses in ökologischer, politischer und volkswirtschaftlicher Hinsicht völlig antiquierte und falsche Signale setzende Gigaprojekt nach einem halben Jahrhundert Umweltbewegung euphorisch begrüßt wird.”

 

Zwölf Merksätze zur Beantwortung der Frage: Wer will ich gewesen sein? 

:: Das Leben hat mich gewagt.
:: Der Raum der Veränderung ist innerhalb, nicht außerhalb unserer Grenzen.
:: Die Zeit der Veränderung ist die Gegenwart, nicht die Zukunft.
:: Ziele sind keine Handlungen.
:: Aufhören braucht einen Grund, aber aufhören zu können, braucht Können.
:: Aufhören sichert das Erreichte, weitermachen banalisiert es.
:: Mit Glaubenssätzen kommt man nicht weiter.
:: Mit Konjunktiven auch nicht.
:: Das Wort “eigentlich” ist zu vermeiden.
:: Die Bedeutung eines Lebens hängt nicht von seiner Dauer ab.
:: Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden.
:: Es git ein Leben vor dem Tod. Und nur da.”

 

“Ich möchte, dass in meinem Nachruf steht: Er hielt die richtigen Fragen für wichtiger als die falschen Antworten – und: Er war immer radikal, aber doch jederzeit bereit, inkonsequent zu sein.”

So viel von Harald Welzer. Sein Buch ist lesenswert, lasst Euch inspirieren: Nachruf auf mich selbst

 

Einige laufende Langzeit-Experimente des Aufhörens

:: Wir wissen, dass Amazon den Einzelhandel und die Infrastruktur unserer Innenstädte zerstört. Wir preisen den lokalen Buchhändler und den Einzelhändler um die Ecke – und bestellen die Bücher und alles andere dann doch bei Amazon – weil es so herrlich bequem ist. “Eigentlich” aber wissen wir, dass wir nicht beim Internet-Monster kaufen sollen. Ich habe Ende Mai 2018 versucht, damit aufzuhören – und feiere nun bald vier Jahre Amazon-Abstinenz. Es geht, es geht gut – und ja, es kostet da und dort etwas mehr Mühe und etwas mehr Geld.

:: Auch die anderen großen Internet-Plattformen, wie Airbnb und Booking.com bekommen nichts von uns. Jegliche Werbung inklusive Präsenz auf Facebook und Google haben wir vor drei Jahren eingestellt – und seitdem nicht wieder begonnen, Don´t feed the monsters!

:: Wir wissen, dass exzessives Fliegen dem Klima und dem Planeten nicht gut tut. Der letzte private Flug liegt nun vier Jahre, der letzte geschäftliche dreieinhalb zurück. Dies kann keine Wiedergutmachung für zahlreiche Flugreisen in früheren Jahren sein, aber es ist der Versuch, jetzt das zu tun, was ich für richtig halte. Jetzt reise ich nach eineinhalb Jahren mal wieder mit Auto und Fähre in die alte Heimat Deutschland.

Diese Experimente des Aufhörens sind nicht etwa lästige Selbstzüchtigungen. Sie machen Spaß, geben Energie und die Gewissheit, dass wir etwas verändern können. Vor allem aber ist die Praxis des Aufhörens politisch. Wir erkennen an, dass wir unserem Verhalten in einer begrenzten Lebenswelt Grenzen setzen müssen – und wenn wir danach handeln, sind wir glaubwürdig, kongruent, selbstmächtig und mit uns im Reinen.

 


Mein Jahr des Aufhörens: Alle Beiträge zum Thema gibt es gesammelt hier.


 

Mein Jahr des Aufhörens:  Die einzelnen Experimente begannen am  Monatsanfang und dauerten bis zu einem Monat dauern, mussten sie aber nicht. Ich habe jeweils geschaut, wie weit mich das Experiment trägt. Wer will, macht einfach selber für sich weiter: Ein Monat ohne Fleisch, ein Monat ohne Milch, ein Monat ohne Zucker, ein Monat ohne Verurteilung anderer Menschen, ein Monat ohne Nachrichten, ein Monat ohne Social Media, ohne Sex, ohne  . . .  das könnten Eure eigenen Experimente sein.

Jeder Neuanfang ist immer auch ein Aufhören: Wer nun zum Beispiel jede Woche drei mal fünf Kilometer läuft, hat seine Karriere auf der Couch beendet. Ihr könnt in den Kommentaren weiterhin schreiben oder mir eine Mail an markus@irlandnews schicken. Ich freue mich drauf und antworte gerne.