Neoliberalismus und Schaff-Felle in Irland

Vor Kurzem war ich im äußersten Südwesten Irlands unterwegs, tief im Schafland – dort, wo karge, saure Böden außer der Schafhaltung eine sinnvolle Nutzung nicht zulassen. Ich wanderte auf einer menschenleeren Landzunge und sah den rohweißen Haufen schon von Weitem. Die Ahnung besätigte sich: Vor einer Schafweide lagen 30 bis 40 Felle aufgehäuft. Immerhin, die Schafe waren von ihrer Last befreit, die Felle allerdings rotten nun in Sonne, Wind und Regen vor sich hin. Die Geschichte dazu ist schnell erzählt: Der Schaf-Farmer bezahlt für das Scheren eines Schafes derzeit 2,50 Euro. Wenn er das Glück hat, seine Wolle an einen Händler los zu werden, bekommt er für ein Fell höchstens 50 Cents. Er legt also dick drauf. Oft haben die Farmer auch dieses „Glück“ nicht mehr. In Scheunen und Schuppen stapeln sich die Säcke mit unverkäuflicher Schafwolle. Dieser Schafbauer hier auf Beara hat sich die vergebliche Mühe wohl einfach erspart, die Wolle in Säcke zu packen und in einem Lager zu verstauen. Soll sie unter freiem Himmel zu Humus werden. Das ist die traurige Wirklichkeit im grünen Schafland in der abgewirtschafteten irischen Provinz.

Einige Tage davor glitt eine schwarz-weiße Yacht an meinem Fenster vorbei durch die Bantry Bay. Die Air. Eine Superyacht. 81 Meter lang. Schwimmender Statustempel für zwölf verwöhnte Menschen. Mit eigenem Hubschrauber. Das Lustschiff gehört dem italienischen Zucker-Oligarchen Augusto Perfetti, einem der reichsten Männer Europas. Der Italiener ist der Freund aller Zahnärzte. Er hat seine Milliarden mit den kaputten Zähnen und der Diabetes der zivilisierten Menschen dieser Welt gemacht. Augusto regiert über die Süßigkeiten-Reiche Chupa Chups, Alpenliebe, Mentos. Perfettis Yacht kann man mieten – für 925.000 Euro die Woche und ein paar Nebenkosten: Die Air verbrennt pro Stunde Fahrt bei 25 km/h bis zu 1000 Liter Diesel. So viel wie 500 Autos. Ich stelle mir vor: Zwölf Menschen fahren in 500 Autos durch die Bucht. Die Yacht ankerte in der Bucht von Glengarriff. Die Abgasschwaden waberten an Land. Wenn die Tempelbewohner Lust auf einen Ausflug hatten, hoben sie im Hubschrauber ab und ratterten lautstark über die Bucht: Das Vergnügen für sie, der Lärm und die Abgase für uns. Warum tun sie das, auf Kosten der Menschen, die hier leben? Weil sie es können. Der ökologische Fußabdruck eines Superreichen ist eine Million (!) mal so groß wie der eines durchschnittlich konsumierenden Erdenbewohners.

Relative Armut trifft auf obszönen Reichtum. Was hat der Haufen irischer Schaffelle mit den Superreichen auf der Yacht zu tun? Sehr viel. Wir sehen zwei gegensätzliche Extreme derselben politisch-wirtschaftlichen Entwicklung. Ganz allmählich dämmert uns, dass wir in der Epoche des zerstörerischen Neoliberalismus leben. Im Namen des Fortschritts und des Wohlstands hat die Politik vor über vier Jahrzehnten begonnen, Gesetze und Ordnungsrahmen zu schleifen und die Wirtschaft von ihren Fesseln zu „befreien“. Die Öffnung der Märkte, die Globalisierung, der selbstverordnete Rückzug der Politik zugunsten des global operierenden Groß- und Finanzkapitals sollte erst den Reichen und Mächtigen, dann allen anderen durch Trickle-Down-Effekte mehr Wohlstand bringen. Heute wissen wir: Es hat nicht funktioniert. Die Mittelschichten leiden, die Unterschichten verarmen, an der Spitze des Beutesystems konzentriert sich obszöner Reichtum bei sehr wenigen Menschen. Die soziale Ungleichheit hat bedrohliche Formen für unsere Gesellschaften angenommen. Wir sind auf dem Weg in die neuen Oligarchien.

Mein Freund, der Schaffarmer, hat manchmal Appetit auf eine Lammkeule. Er kauft sie im Supermarkt. Meistens kommt sie aus Neuseeland und ist preiswert. Die lokalen Märkte haben sich längst aufgelöst. Ein örtliches Schlachthaus gibt es nicht mehr. Die Lämmer werden am Ende des Sommers in weit entfernte Großschlachtereien gekarrt. Auch die EU hat ganze Arbeit geleistet. Die Preise für Lammfleisch und für die Schafwolle werden in Übersee gemacht. Fehlende Phantasie hilft auch nicht weiter: Es gibt keine Firma, die die Schafwolle wenigstens zum Isolieren der Häuser einsammeln und aufbereiten würde. Die örtlichen Schaffarmer können sich von ihrer Arbeit nicht mehr ernähren. Sie leben von den Subventionen aus Brüssel und Dublin – und das mehr schlecht als recht.

Wir alle haben kräftig und oft freiwillig geholfen, unsere heimischen Märkte und Geldkreisläufe zu zerstören: Wir kaufen bei den großen Internetplattformen, entziehen den lokalen Märkten das Geld und schicken die Profite in die Taschen der Wenigen, die das globale Machtspiel beherrschen. Wir kaufen unsere Waren bei Amazon oder gleich bei Temu, wir buchen bei Booking.com und Airbnb, wir bestellen Essen bei Lieferdiensten, unsere Schuhe und Klamotten bei mächtigen Onlinehändlern. Wir besorgen die schwindelerregend teuren Konzert-Tickets bei Ticketmaster (weil es sie anderswo nicht gibt) und lassen uns beim Online-Psychologen von Better Help therapieren. Unsere Konsum- und Verhaltens-Profile verschenken wir an Facebook und Google. Wir essen kein lokales Lammfleisch und tragen keine Pullover aus der Wolle vom Schaf um die Ecke. Unsere Häuser dämmen wir nicht mit Schafwolle.

Konzentration, Oligopole, Manipulation, die Bedrohung der Wahrheit und eine sich verschärfende Ungleichheit. Statt blühender Netzwerk-Landschaften leiden wir in Europa nach drei Jahrzehnten Internet unter den Verklumpungen des Plattform-Kapitalismus. Die Kontrolleure des Internets beherrschen die Märkte, bestimmen die Spielregeln und beeinflussen maßgeblich, wie wir leben. Sie ziehen massiv Geld aus den lokalen Märkten ab, das in den Taschen einiger weniger Investoren landet. Viele Menschen, deren Arbeitsplätze (Mac Jobs und Gig Jobs) an diesen Online-Plattformen hängen, fristen ein karges Leben. Mitarbeiter in Verpackstationen oder Fahrradkuriere sind so etwas wie das Proletariat der Gegenwart.

 

Dies war kein Plädoyer für das Tragen kratziger irischer Wollpullover. Um die Orte, an denen wir leben und arbeiten, um deren Wirtschaftskreisläufe, deren Infrastruktur, deren natürliche Welt und deren Landschaften, kurz: um deren Gedeihen, könnten wir uns in Zukunft allerdings wieder besser kümmern.

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Das neue Buch* des Schriftstellers, Kolumnisten und politischen Aktivisten George Monbiot widmet sich der destruktiven Großideologie unserer Zeit: dem Neoliberalismus. Es beginnt mit diesen Worten:

„Stellen Sie sich vor, die Menschen in der Sowjetunion hätten noch nie etwas vom Kommunismus gehört. Das ist mehr oder weniger die Situation, in der wir uns heute befinden. Die vorherrschende Ideologie unserer Zeit, die fast jeden Aspekt unseres Lebens beeinflusst, hat für die meisten von uns keinen Namen. Wenn man sie erwähnt, schalten die Leute entweder ab oder reagieren mit einem verwirrten Achselzucken: „Was meinen Sie? Was ist das?“ Selbst diejenigen, die das Wort schon einmal gehört haben, tun sich schwer, es zu definieren.

Seine Anonymität ist sowohl ein Symptom als auch eine Ursache für seine Macht. Sie hat die meisten Krisen, mit denen wir heute konfrontiert sind, verursacht oder dazu beigetragen: steigende Ungleichheit, grassierende Kinderarmut, epidemische Krankheiten der Verzweiflung, Offshoring und die Aushöhlung der Steuerbasis, der langsame Verfall des Gesundheitswesens, des Bildungswesens und anderer öffentlicher Dienstleistungen, der Zerfall der Infrastruktur, der Rückfall der Demokratie, der Finanzcrash 2008, der Aufstieg moderner Demagogen wie Viktor Orbán, Narendra Modi, Donald Trump, Boris Johnson und Jair Bolsonaro, unsere ökologischen Krisen und Umweltkatastrophen.

Wir reagieren auf diese Probleme, als ob sie isoliert auftreten würden. Eine Krise reiht sich an die andere, doch wir verstehen ihre gemeinsamen Wurzeln nicht. Wir erkennen nicht, dass all diese Katastrophen entweder von derselben kohärenten Ideologie herrühren oder von ihr verschlimmert werden – einer Ideologie, die einen Namen hat oder zumindest hatte.

Neoliberalismus. Wissen Sie, was das ist?“

In einem Interview mit The Ink erklärte George Monbiot die Funktion des Neoliberalismus, unter dem die meisten Menschen dieser Welt nun seit mehr als vier Jahrzehnten, seit den Zeiten von Ronald Reagan und Margaret Thatcher leiden:

„Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das auf kolonialer Ausplünderung beruht. Es operiert auf einer sich ständig verschiebenden und sich selbst verzehrenden Grenze, auf der sowohl der Staat als auch mächtige Privatinteressen ihre Gesetze anwenden, unterstützt durch die Androhung von Gewalt, um gemeinsame Ressourcen in exklusives Eigentum zu verwandeln und natürlichen Reichtum, Arbeit und Geld in Waren zu verwandeln, die akkumuliert werden können.“

In den ersten Jahrhunderten expandierte der Kapitalismus ohne große Einschränkungen. Seine Befürworter forderten von den Regierungen „laissez-nous faire“: Lasst uns in Ruhe. Doch dann stieß er auf ein Problem, das er seither zu lösen versucht: die Demokratie. Als die meisten Erwachsenen das Wahlrecht erhielten, versuchten sie, es zu nutzen, um die Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern, einen größeren Anteil an den Produktivitätsgewinnen zu fordern und andere unverschämte Forderungen zu stellen, wie z. B. die Luft und die Flüsse nicht zu vergiften, die Lebensmittel nicht zu verfälschen oder keine Wuchermieten zu erheben. Sie gingen sogar so weit, dass sie die Umverteilung des Reichtums, wirksame öffentliche Dienstleistungen und ein wirtschaftliches Sicherheitsnetz forderten. Der Neoliberalismus wurde als Mittel zur Lösung des Demokratieproblems erdacht.

Im Gegensatz zur Laissez-faire-Wirtschaft fordert der Neoliberalismus eine aktive Regierung: Er will den demokratischen Gesellschaftsvertrag auflösen, öffentliches Vermögen und öffentliche Dienstleistungen privatisieren, den Wohlfahrtsstaat auflösen, Gewerkschaften und Proteste einschränken und Krisen ausnutzen oder schaffen, um unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen. Er bietet eine Infrastruktur der Rechtfertigung, um diesen Wandel als das einzig vernünftige Schicksal der Gesellschaft erscheinen zu lassen.

Der Neoliberalismus ist eine Doktrin, die darauf besteht, dass wir unsere Probleme nicht durch die Politik, sondern durch einen Mechanismus lösen sollten, den sie „den Markt“ nennt: einer ihrer vielen absichtlich verwirrenden Begriffe. In diesem Fall bedeutet „der Markt“ die Macht des Geldes und derjenigen, die es besitzen. Der Neoliberalismus behauptet, dass der Wettbewerb das bestimmende Merkmal der Menschheit ist und dass wir durch den Kauf und Verkauf auf einem wettbewerbsorientierten „Markt“ eine natürliche Hierarchie von Gewinnern und Verlierern entdecken können. Er besteht darauf, dass alles, was diese Hierarchie stört – Steuern, Umverteilung, Gewerkschaften, die Politik selbst – das menschliche Gedeihen behindert und den Weg zum Totalitarismus ebnet. Es handelt sich um eine Reihe bequemer Fiktionen zur Rechtfertigung von Ungleichheit, die mit der Zeit zur Oligarchie führen.“

 

Das Buch:  George Monbiot, Peter Hutchison: Invisible Doctrine. The Secret History of Neoliberalism (2024). Ihr lokaler Buchhändler besorgt es gerne für Sie. Es ist auch hier beim fairen Online-Buchhändler Buch7 erhältlich.

 

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Neoliberalismus und Schaffell

 

Fotos: Markus Bäuchle