»Ich betrete das vereiste Land, ohne zu wissen, welchem Teil der Welt es angehört. Manchmal sehe ich es wie aus der Sicht einer Drohne, so weit unten erstreckt sich die verschneite Landschaft, Berge, Schluchten, Seen und Wälder, die plötzlich aufragen und meine Augen mit ihren weißen Ästen streifen. Dann wieder stecke ich bis zu den Knien darin, kein Horizont zu erkennen, kämpfe mich mühsam voran auf dieser Reise, deren Sinn unklar ist, weiß nicht, woher ich komme und wohin ich gehe.« (S. 9)
Im Gestöber der Erinnerungen
Reise durch ein fremdes Land von David Park, übersetzt von Michaela Grabinger.
Rezensiert von Ellen Dunne
David Parks Reise durch ein fremdes Land setzt den Ton gleich eingangs mit einer (alb)traumartigen Szene, in der sich Berufsfotograf Tom durch einen Schneesturm kämpft, das Ziel des warmen Zuhauses vor Augen, das doch unerreichbar fern ist. Der passende Auftakt für Toms Mission: Es ist Weihnachten, und er will seinen erkrankten Sohn Luke von dessen Studienort für die Feiertage heimholen nach Belfast. Trotz des schlimmen Schneesturmes, der ganz Nordengland und Schottland lahmlegt und die Reise zu einem langwierigen und gefährlichen Unternehmen macht. Denn dieses Jahr zumindest soll die Familie zusammen sein. Koste es, was es wolle.

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly
Ein Fotograf auf einer bildhaften Reise in die Vergangenheit
Schon bald wird klar – hinter Toms Reise steckt mehr als ein Festhalten an alten Familientraditionen oder Nostalgie nach vergangenen Zeiten. Es ist ein tiefsitzender Schmerz über einen unsäglichen Verlust, der die Familie von innen zu sprengen droht. Für den Tom auf seiner einsamen Reise durch die verschneite Landschaft Erklärungen sucht, und Absolution für seine eigene Rolle darin.
Trotz der Kürze des Romans lässt sich David Park Zeit. Während langsam die Highlights von Toms ziemlich durchschnittlich verlaufendem Leben aus dem Eis der Vergangenheit getaut werden, tauchen immer mehr Hinweise für die Art der Tragödie auf, die Tom und seine Familie heimgesucht hat. In einer Sprache, die in ihrer Einfachheit bis ins Mark trifft.
»Kilometer um Kilometer geht die Fahrt, die mir wichtiger erscheint als alles, was ich seit Daniel gemacht habe, die, wie ich allmählich glaube, alles ändern kann, wenn ich sie zu Ende bringe, durch die vielleicht sogar alles wieder ins frühere Gleichgewicht kommt, in den Zustand, bevor alles kippte und aus dem Lot geriet.« (S. 62)
Elternschaft als Reise in ein fremdes Land – ohne Wegweiser
Der inzwischen pensionierte Lehrer David Park publiziert bereits seit 1990 Kurzgeschichten und Romane, bisher wurde noch keiner seiner Romane ins Deutsche übersetzt. Umso mehr freut es mich, dass Travelling in a Strange Land, so der Originaltitel, ein Zuhause im Dumont Verlag gefunden hat, und in Michaela Grabinger eine so versierte Übersetzerin.
Denn David Park steht für mich in der nordirischen Literatur in einer Reihe mit Bernard MacLaverty, der durch Cal, die Geschichte einer unmöglichen Liebe während der Troubles, international bekannt wurde und regelmäßig bei deutschen Verlagen erscheint. Sowohl die Themen als auch die absolute Empathie, mit denen Park und MacLaverty ihren Charakteren nähern, haben beide Autoren für mich gemeinsam.
So schweift Toms Fokus, der seinen Traum von der künstlerischen Fotografenkarriere zugunsten des regelmäßigen Broterwerbs durch Hochzeits- und Familienfotos aufgegeben hat, während seiner Fahrt immer wieder ab in der Vergangenheit. Teils flüchtige, teils intensivere Begegnungen mit Menschen auf seiner Reise – so leistet Tom einer auf der Schneefahrbahn verunfallten Frau Hilfe, bis die Rettung eintrifft – wechseln sich ab mit Erinnerungen an seine Familie. Die werden zunehmend schmerzhaft, je mehr sie sich seinem ältesten Sohn Daniel zuwenden.
»Eltern von Teenagern, die weglaufen und sich dem IS anschließen, werden mit Häme überschüttet. Sie seien miserable Eltern, heißt es, oder hätten wissen müssen, was in den Köpfen ihrer Kinder vor sich ging. Bestenfalls gilt ihr Frühwarnsystem als defekt, weil es nicht erkennen konnte, was sich in ihre Familie eingeschlichen und die Gedanken ihrer Kinder versucht hat. Vielleicht habe ich früher auch so gedacht. Nur vielleicht. Aber das war davor. Jetzt werte ich nicht mehr, urteile nicht mehr vorschnell. Ein Kind großzuziehen ist etwas anderes, als diesen Wagen zu fahren. (…) Mit einem Kind gerät man in einen Blizzard widersprüchlicher, wirrer Gedanken. Man verirrt sich ganz schnell, obwohl man dachte, man wüsste genau, wo es langgeht, und die bekannten Wegmarken, denen man so vertraut hat, sind rasch vom Schnee verschluckt.« (S. 70-71)
Zutiefst menschliche Annäherung an das Drama eines durchschnittlichen Lebens
Immer wieder blitzen Belfast und die nordirische Vergangenheit als Schlaglichter auf, bilden aber stets den dezenten Hintergrund für ein privates Drama. Nach und nach gerät Toms typische Mittelklassefamilie in eine Abwärtsspirale, verliert durch das Abgleiten eines Kindes immer mehr an Halt. Allen voran Tom, der noch immer seine eigene Rolle im Drama und empfundene Fehler als Geheimnis in sich verborgen hält, so wie die tief in seiner Kamera verschütteten Fotos seines verlorenen Sohnes.
Klingt melodramatisch? Ist es aber nicht. Denn David Park begeistert mit starken Bildern und einer vordergründig einfachen, klaren Sprache, die nicht billig um Emotionen heischt. Und genau deshalb geht Reise durch ein fremdes Land so tief
Meine Meinung
Ein kurzer Roman mit langem Nachhall, der niemanden kalt lassen dürfte. David Parks Reise durch ein fremdes Land nimmt uns mit auf einen berührenden Trip durch die größten Freuden und tiefsten Schmerzen von Familie und Elternschaft. Könnte ich einen allgemeinen Lesebefehl ausgeben – für diese Geschichte würde ich ihn ohne Bedenken erteilen.
Reise durch ein fremdes Land
David Park, übersetzt von Michaela Grabinger
Erschienen im Dumont Verlag, 190 Seiten
Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7 für 20 €
Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.
Fotos: Titelfoto von Ellen Dunne, Produktfoto und Autorenfoto Dumont Verlag, Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)
Vielen Dank für die neuen alten Tips, hört sich SEHR SEHR gut an für mich! Ich werde berichten…Aber warum sie an mir vorbeigegangen ist….egal, jetzt kann ich sie ja lesen! Haben ja auch kein Zeitlimit…
Alles Liebe und Gute für Sie!
Birgit aus dem Rheinland
Ich bedanke mich auch für Ihre Worte.
Und überhaupt für Ihre wunderbaren Buchvorschläge. Aber mit dem Milchmann von Anna Burns , das Buch kann ich nur seitenweise und dann wieder mit tagelangem und wochenlangem Abstand lesen. Es ist so gut geschrieben, dass ich sofort in der Atmosphäre gefangen bin und es dann nicht immer aushalten kann und nicht weiterlese. Ist mir noch nie vorher so ergangen mit einem Buch. Aber ganz weglegen kann ich es auch nicht! Ich beschäftige mich z.Zt. mit den Verbrechen der IRA (unter anderem) und da ich kaum englisch spreche und in Deutschland lebe greife ich nach jeder Info, die ich kriegen kann…So, das musste mal geschrieben werden!
Viele herzliche Grüsse aus dem Rheinland
Birgit Michael
Freut mich sehr, wenn die Tipps bei Ihnen auf offene Ohren stoßen, liebe Birgit. Anna Burns ist wirklich kein einfaches Buch, da stimme ich Ihnen zu. Ich habe selbst immer nach wenigen Seiten mit dem Schlaf gekämpft, meist vergeblich. Einfach, weil das Buch so intensiv ist und die komplette Aufmerksamkeit fordert, und das zurecht. Zum Glück gibt es mit guten Büchern ja kein Zeitlimit… Es ist tatsächlich nicht so einfach, auf Deutsch aktuellere Literatur zum Thema zu finden, die nicht Klischees bedient oder allzu trocken daherkommt. Haben Sie das Buch von Siobhan Fenton, das ich im November hier vorgestellt habe, ausprobiert? Das empfinde ich als guten Überblick. Hier der Link:https://irlandnews.com/buch-tipp-irland-november/
Eigenwerbung stinkt ja bekanntlich, und doch: Mein Erstling, inzwischen schon vor über 10 Jahren erschienen, hat sich übrigens auch mit dem Thema Nordirlandkonflikt beschäftigt und es für deutschsprachiges Publikum aufbereitet; eine echte Liebesarbeit mit viel Recherche damals. Es kam zu meiner Freude gut an. Es heißt Wie du mir, kann mit Anna Burns aber natürlich nicht mithalten, ist aber trotzdem recht unterhaltsam ;) Viel Spaß bei der literarischen Entdeckungsfahrt nach Irland.
Vielen Dank, liebe Ellen, dass Du uns jeden Monat Deine irischen Buch-Favoriten so unterhaltsam vorstellst. Besonderen Dank für die heutige Empfehlung, inklusive „allgemeinem Lesebefehl“. Ich habe mich gleich dran gesetzt und habe viel Spaß an David Park´s Formulierungskunst: “A watched kettle never boils,” . . .
Gerne! Und schön, dass ich deinen Appetit wecken konnte. Bin gespannt, wie es dir gefällt!
Moin! Mir ging es auch so, als ich vor vielen Jahren NICHT MITBEKAM, wohin mein Sohn abdriftete und erst eine Freundin mich aufmerksam machte auf das, was sich da anbahnte…Sie ist heute als „angenommene “ Tante meines Sohnes eine der wenigen anerkannten Freundinnen von mir, die anderen werden von ihm akzeptiert als MEINE Freundinnen….
Ich freue mich schon darauf, das Buch zu lesen…
Vielen Dank und viele Grüsse, bleiben Sie gesund!
Birgit aus dem Rheinland
Vielen Dank für diesen Beitrag, Birgit. Ich denke, diese Geschichte berührt deshalb so, weil es so schnell passieren kann. Auch wenn man nicht dieselbe Erfahrung teilt, kann man sich sehr gut vorstellen, wie hilflos man sich fühlen kann. Freue mich, dass es gut ausgegangen ist für Sie und Ihren Sohn …