Himmel über dem Mizen

 

Off the Beaten Track: Weit oben, direkt unterm Himmel, hoch über dem Mizen, steht ein altes Gebäude aus dem 18. Jahrhundert. Alleine, verlassen, in allen Wettern. Den scharfen Winden aus dem Südwesten ausgesetzt. Wie lange der alte Signalturm den Menschen wohl Schutz geboten hat? Noch im Zweiten Weltkrieg gingen Wachposten dort ihrer Arbeit nach, suchten den offenen Atlantik nach möglichen Eindringlingen ab. Dann kam der Frieden und der große Konsumkrieg begann – hier auf der Insel am Atlantik später als auf dem Kontinent, dafür besonders heftig. Man nannte ihn den Keltischen Tiger.

Dort unten, vor den zackigen Felsstummeln im Meer, hat Rolling-Stone-Fotografin Anne Leibovitz im Sommer 2013 das Foto der polnisch-kanadischen Darstellerin Daria Werbowy aufgenommen – als Wild Irish Rose für eine Bildstrecke in der Ikone der kapitalistischen Mode- und Warenwelt, der Vogue (Ausschnitt unten).

 

Vogue Wild irish Rose

 

Darunter, im ersten Landschafts-Geschoss, begehen Sommerfrischler aus aller Welt die bekannte Mizen-Head-Brücke, um beim Blick in die Tiefe zu erschauern; sie schauen sich die Klippen an und die alte Signalstation auf dem Inselfelsen, die in den 90er-Jahren automatisiert wurde und zum Museum erstarrte.

 

Gedankengänge: In welcher Welt wollen wir (nicht) leben?

Hier oben auf den Klippen, nah am Himmel, kommen und gehen die Gedanken beim Gehen. Mein Februar-Experiment des Aufhörens dauert nun zwei Wochen an. Ich lese derzeit keine News, konsumiere keine Nachrichten. Die Nachrichtenruhe tut weiterhin gut. Ich höre dies und jenes von mehr oder weniger besorgten Bekannten und Freunden.

Das Gefühl nach zwei Wochen News-Fasten: All die Nachrichten, die wir täglich konsumieren, mischen unsere innere Welt auf, zerstückeln unseren Gedankenstrom. Sie zerren uns aus unserer Mitte in ihre eigenen Sphären, die wir selber nicht bestimmen können. Beim News-Hören-Lesen-Sehen entscheiden andere über die Richtung unserer Gedanken. Ukraine, China, Olympia, Krieg, Abfahrtslauf, Putin tut dies, Putin tut das, böser Putin, ohnmächtiger Biden, Trump, Klimakrise, Covid, Covid, Impfpflicht, Lauterbach-Palaver, Bayern, Kimmich, Kahn, Söder, Pflegepersonal, Booster, Booster, wo ist Scholz, und und und . . .  Eben gehört, nachher vergessen. Gerade mächtig wichtig, morgen völlig irrelevant. Das meiste davon jedenfalls.

Relevant für mein Leben und meinen Alltag hingegen ist, dass der Turner-Tunnel auf dem Cahapass hinüber nach Kerry schon wieder gesperrt ist: Felsrutsch. Pfusch am Fels, Fahrt fällt aus; dass die Seilbahn nach Dursey Island ab April für sieben Monate still stehen wird, oder dass die Ungerer-Familie den Three Castle Head, eine ganze halbe Halbinselspitze in ihrem Besitz, für die Öffentlichkeit gesperrt hat. Begründung: Over-Tourism, wilde Besuchermassen auf den Spuren der ermordeten Französin Sophie Toscan de Plantier trampeln die Landspitze platt. Wirklich? Nur die White Lady weiß es. Ich habe beschlossen, lokale News von der Nachrichtensperre auszunehmen und sie konzentriert zu lesen. Wenn mir Freunde Neuigkeiten berichten, wiegle ich nicht ab. Im Übrigen hänge ich noch eine Woche ohne Nachrichten dran.

Vergangene Woche trieb mich dieser Gedanke um:

Was genau wird vorbei sein, wenn es endlich vorbei ist? Wir wünschen uns vorwärts zurück in die Zeit vor Corona. Doch auch vor dem März 2020 hatten wir keine gute Zeit. Die Probleme und Konflikte (Stichworte: Planetare Zerstörung, Klimawandel, systemische Finanz- und Wirtschaftskrise, Sinnkrisen) sind im Corona-Nebel abgetaucht. Sie sind jedoch weder gelöst noch verschwunden. Sie werden uns mit großer Wucht begrüßen, wenn Corona für beendet erklärt sein wird. Viele Menschen begreifen es als Freiheit, dann, vielleicht schon im Sommer, kräftig nachzuholen, was sie in den vergangenen zwei Jahren alles versäumt haben. Mehr Reisen, mehr Event, mehr Ablenkung. Ich versuche zu denken, dass Freiheit ist, vieles aus freiem Willen zu lassen, zu beenden oder nicht wieder zu beginnen. Freiwillig, bevor der externe Druck uns keine Wahl mehr lässt . . .

In den vergangenen Tagen suchte ich nach Antworten: Was also wird sein, wenn es um die Pandemie geschehen sein wird? Das wird von uns allen abhängen. Im Kern geht es um die Frage: Wie wollen wir leben, wie stellen wir uns die menschliche Existenz der Zukunft vor, welches Menschenbild soll sich durchsetzen? Werden wir transzendente Wesen oder seelenlose Maschinen-Menschen sein? Erste Antworten:

Ich will nicht als Erdenbürger in einer WELT leben . . .

  • in der die Spezies Mensch allen Lebensraum für sich besetzt und nichts für alle anderen Lebewesen übrig lässt (außer für Hund und Katz)
  • die von ungebremster Gier vollends zerstört wird
  • in der eine Wirtschaft, von der Wenige profitieren, über die Vielen herrscht
  • in der der Fetisch Wachstum alles regiert
  • in der unsere Versorgung von wenigen globalen Multinationals gekapert wurde
  • in der der Rest der natürlichen Welt vom “Klimarettungs”-Komplex verspargelt und vernichtet wird
  • in der Menschen zu digital gesteuerten Konsumenten degradiert sind
  • in der es kein Recht auf ein analoges Leben mehr gibt
  • in der intellligente Maschinen und Algorithmen zunehmend das Sagen haben
  • in der Mensch und Maschine (Künstliche Intelligenz) kopulieren
  • in der mehr Menschen in digitalen Parallell-Welten vegetieren als in der materiellen Welt leben
  • in der einseitig begabte Sonderlinge und Menschen-Darstellerinnen die großen Vorbilder sind (Bezos, Zuckerberg, Kardashian)
  • in der uns einzelne Größenwahnsinnige ungehindert und ungebremst den Nachthimmel zerstören (Musk)
  • in der wir Covidpässe oder andere digitale Fesseln zum Einkaufen oder zum Reisen benötigen
  • in der eine eindimensionale Maschinenmedizin Arm in Arm mit Big Pharma Gesundheit und Heilung definiert
  • in der Schönheit nichts mehr gilt und in der nur Zählbares zählt
  • in der unser einziger unschuldiger Blick noch der zum Mond ist
  • in der die Liebe eine Ware ist
  • in der die Freiheit der Sicherheit oder partikularen Interessen geopfert wird.  (Denn Freiheit ist die Grundlage für alles, selbst für die Solidarität).

   

Wie geht es Euch und Ihnen? In welcher Welt willst DU (nicht) leben?

 

Fotos: © 2022 Markus Bäuchle (2); Vogue 2013; die ganze Bildstrecke von Annie Leibovitz mit Daria Werbowy und Adam Driver ist hier zu sehen: Wild Irish Rose in Vogue