Off the Beaten Track: In diesem versteckten, einsamen Tal in Kerry haben vor 200, und noch vor 100 Jahren zahlreiche Menschen gelebt. Die alten Steinmauern und die Ruinen der Häuser kunden von Zeiten, als das Leben hier im Hochtal hart – aber möglich war. Die Menschen lebten abseits der Versorgungszentren der Städter, ihre Farm war das Zentrum, in dem sie arbeiteten, um sich am Leben zu halten. Hier oben konnten sich die irischen Farmer und ihre Familien vielleicht sogar dem allzu heftigen Zugriff der englischen Landlords entziehen, die unten in der Bucht im noblen Zweitwohnsitz den rauen Ton angaben.

 

Seit vielen Jahrzehnten liegt das meandernde Tal menschenleer. Ein Reich der Schafe. Reine Natur ist das Tal nach dem Rückzug der Menschen nicht mehr geworden, es bleibt eine vom Menschen geprägte menschenleere Landschaft weit abseits der Zivilisation. Neuerdings, seit ein paar Jahren, dringen Männer mit vierrädrigen Geländemobilen in diese Landschaft vor. Sie hinterlassen im weichen Moorboden tiefe Spuren und Erosionsrinnen an den Hängen. Sie dringen mit ihren lärmenden Breitreifen-Vehikeln mühelos in Minuten an zuvor stille Orte vor, die ihre Großväter nach stundenlangen Fußmärschen erreichten.

Die Berge von Cork und Kerry haben sich dem massiven zivilisatorischen Zugriff bis heute recht erfolgreich entzogen. Das wird sich nun ändern. Die Kraft der Motoren, angetrieben von Diesel, Gier und Profit, hat vielerorts schon die Bergkuppen erreicht und beginnt diese zu bearbeiten. Die brutal in die Berghänge geschlagenen Straßen führen nicht ins Nirgendwo. Sie werden unter anderem an künftigen Windparks enden. Natur wird in profitträchtiges Kapital umgewandelt.

Spaziergänge und Berggänge sind Gedankengänge

Die Spaziergänge und Berggänge sind mir immer auch Gedankengänge. Die Sorgengrenze hat sich Richtung Himmel verschoben. Es ist nicht mehr so leicht wie damals, sie zu überwinden und vergnügt über ihr zu wandern.

Mein Februar-Experiment des Aufhörens dauert nun fast eine Woche. Ich lese derzeit keine News, konsumiere keine Nachrichten. Zur Vorbereitung hatte ich sämtliche Newsletter per Regel aus dem Posteingangsfach des Emailprogramms abgeleitet. Fernseher und Radio blieben aus, Papierzeitungen gibt es bei uns längst keine mehr. Die sie ersetzenden Medien-Websites im Internet mied ich. Ich landete noch zweimal, Macht der Gewohnheit, auf den Seiten des Guardian, ohne es gleich zu merken. Nun ist Nachrichtenruhe. Sie tut gut.

Ich habe der Information aus Nachrichtenquellen seit Jahrzehnten täglich eine Stunde und mehr gewidmet. Diese Zeit hält nun jeder Tag zusätzlich für mich bereit. Zeit für neue Projekte. Mein Kopf wirkt klarer, befreit, die Gedanken besser geordnet und tiefer. Es kann sein, dass all die Nachrichten unsere innere Welt aufmischen, die Gedanken zerstückeln und uns fast beliebig in die Fallräume der äußeren Welt zerren.

Eine Woche keine Nachrichten über die hässlichen Zwillinge Covid und Corona. Das tut richtig gut – auch wenn hier in Irland fast alle Einschränkungen schon seit dem 22. Januar aufgehoben sind. In der Weite des nachrichtenfreien Raumes wird mir klar: Ich leide unter einem Post-Coronismus-Syndrom. Zu intensiv verharren die Eindrücke auch aus anderen Ländern Europas, auch aus der alten Heimat. Mich quält noch immer der Gedanke, wie schnell vermeintlich liberale demokratische und freie Gesellschaften ins Taumeln geraten, wie bedenkenlos Freiheiten außer Kraft gesetzt werden, wie spielend leicht große Minderheiten, ja viele Millionen Menschen, ausgegrenzt, diskriminiert und vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Was macht die Angst mit Menschen und was kollektive Angst mit Gesellschaften? Darüber wird gemeinsam zu reden sein, wenn sich die kollektiven Gedankennebelfelder aufgelöst haben.

Der zweite quälende Gedanke: Was genau wird vorbei sein, wenn es endlich vorbei ist? Wir wünschen uns vorwärts zurück in die Zeit vor Corona. Doch auch vor dem März 2020 hatten wir keine gute Zeit. Die Probleme und Konflikte (Stichworte: Planetare Zerstörung, Klimawandel, systemische Finanz- und Wirtschaftskrise, Sinnkrisen) sind im Corona-Nebel abgetaucht. Sie sind jedoch weder gelöst noch verschwunden. Sie werden uns mit großer Wucht begrüßen, wenn Corona für beendet erklärt sein wird. Viele Menschen begreifen es als Freiheit, dann, vielleicht schon im Sommer, kräftig nachzuholen, was sie in den vergangenen zwei Jahren alles versäumt haben. Mehr Reisen, mehr Event, mehr Ablenkung. Ich versuche zu denken, dass Freiheit ist, vieles aus freiem Willen zu lassen, zu beenden oder nicht wieder zu beginnen. Freiwillig, bevor der externe Druck uns keine Wahl mehr lässt . . .

Und jetzt gehe ich hinauf in den Raum oberhalb der Sorgengrenze . . . Einen guten Sonntag! 

 

Kerry Irland

 

Fotos: © 2022 Markus Bäuchle